7. Kapitel
Die Gnade - Ehe und Ehescheidung - Hat Christus gelebt? -
Wiedereinverleibung - Freiheit des Geistes - Die Glaubensgerechtigkeit
- Die Zukunft der Kirchen - Die Stufe der Erde in der Weltordnung - An
die Gemeinde der Liebe - Anmerkungen
"Ich habe in diesen Tagen viel über Religionsfragen nachgedacht",
begann Hallerstede. "Vieles ist mir klar geworden, anderes noch dunkel
geblieben, so z.B. die Gnade Gottes, womit die Theologen manches
erklären wollen, was sie sonst nicht erklären könnten. Ich
halte diese Gnade für eine Verlegenheitsausrede, die sich immer dann
einstellt, wenn die Theologen mit ihrem Wissen zu Ende sind. Das Wort ist
mir immer unangenehm gewesen, schmeckt nach Laune und Willkür. Warum
ist Gott dem einen gnädig, dem andern nicht? Ist das gerecht? Und
nun finde ich dies verdriessliche Wort auch in dem Schöpfungsbericht,
wo es heisst: "die Hand meiner Gnade ist über das Feld des Leidens
gegangen." Es scheint zwar, als habe das Wort hier eine andere Bedeutung,
aber klar ist mir diese Bedeutung nicht."
"Und ich habe das Neue Testament mitgebracht", sagte Mechthildis, "und
möchte, mit eurer gütigen Erlaubnis, allerlei Fragen stellen.
Ich möchte diese gute Gelegenheit zur Belehrung nicht unbenutzt vorüber
gehen lassen."
"Dieser Eifer ist ja erfreulich, aber seid barmherzig und verlangt
nicht zuviel. Wenn ich das ganze Neue Testament erläutern sollte,
wie Ihr Lust zu haben scheint, würden wir in der dafür nötigen
Zeit um den Erdball reisen können und dürfen uns nicht beeilen
dabei. Und ferner verstehe auch ich noch nicht alles und bedarf noch vieler
Belehrung. Einiges kann ich euch wohl noch sagen, anderes müssen wir
auf später verschieben. Betrachten wir jetzt den Begriff Gnade.
Es ist wahr, dies Wort hat einen üblen Beigeschmack, entstanden durch
die Art, wie die Menschen die Gnade verstehen und anwenden. Aber der eigentliche
Sinn ist ein anderer. Das Wort Gnade kommt her vom altdeutschen Genahde
und bedeutet: sich neigen, herablassen, sich nahen. Wenn also Gott
dem Menschen eine Gnade erzeigt hat, so heisst dies, Gott ist ihm genaht,
ihm näher gekommen. Nun kann aber, nach dem Gesetz der Freiheit,
Gott dem Menschen nicht näher kommen, ihm nicht eine Gnade erweisen,
wenn der Mensch selbst nicht will. Gott zwingt ihm nichts auf. Der
Mensch muss erst wollen, muss guten Willen bezeigen [zeigen; Anm.d.Erf.],
dann kann Gott ihm helfen. In Wahrheit hat nicht Gott sich dem Menschen
genähert, denn Gott ist immer nahe, sondern der Mensch hat sich Gott
genähert durch seinen guten Willen. In diesem Sinne verstanden, verliert
das Wort seinen üblen Beigeschmack, und die Gnade erscheint als eine
Verbindung von Liebe, Freiheit und Gerechtigkeit: von Liebe, indem Gott
immer hilfsbereit ist; von Freiheit, indem Gott den Menschen nicht zwingt,
sondern wartet, bis er von selber kommt; von Gerechtigkeit, indem er gibt,
was der Mensch oder Geist braucht und wessen er sich würdig gemacht
hat. "Die Hand meiner Gnade ist über das Feld des Leidens gegangen",
das heisst: Gott hat gewusst, dass der Geist fallen konnte infolge seiner
Freiheit und Unvollkommenheit, und für diese Möglichkeit hat
er vorgesorgt, indem er es so einrichtete, dass, wie jener Bericht
sagt, "die Folge der Sünde zugleich die Sühne ist; die Frucht
der Sündensaat ist zugleich das Gut, die Schuld zu bezahlen." In dieser
Einrichtung liegt höchste Weisheit, denn sie wendet das Übel,
das Leid zum Guten. - Was habt ihr auf dem Herzen, Erna?"
"Ich gedachte, allerlei zu fragen, will mich aber den Umständen
entsprechend, auf einen wichtigen Gegenstand beschränken. Ich meine
das Eheproblem, und da besonders die Frage der Ehescheidung. Ihr wisst
aus eigener Beobachtung, wie leichtfertig heute Ehen geschlossen und gelöst
werden. In der Ehescheidung ist man in einigen Ländern sehr leichtsinnig.
Die römische Kirche dagegen hält die Ehescheidung für unstatthaft,
und ebenso auch das Heiraten geschiedener Eheleute. So stehen extreme Ansichten
sich schroff entgegen. Was ist nun Wahrheit, was Irrtum? Liegt die Wahrheit
auch hier in der Mitte, wie bei so vielen anderen Dingen? Da die Ehefrage
alle jungen Leute angeht und auch viele alte Leute und somit zu den ernstesten
Lebensfragen gehört, sollte sie doch einmal klargestellt werden ohne
Vorurteile und Dogma und mit Rücksicht auf die Umstände, die
dabei zu beachten sind."
"Ein schwieriges Problem fürwahr, und zu gross, als dass ich es
restlos lösen könnte. Nehmt also vorlieb mit dem, was ich euch
sagen kann, und betrachtet meine Worte als rein persönliche, unmassgebliche
Meinung. Was ist die Ehe? Ein Vertrag zweier gleichberechtigter Menschen,
worin sie sich freiwillig Liebe und Treue geloben. Ein Vertrag muss gehalten
werden für die vereinbarte Zeit, in der Ehe also bis zum Tode, oder
bis er durch freiwillige Entschliessung gelöst wird. Dies wollen wir
uns recht deutlich machen. Wer mir vertraglich etwas verspricht, wird dadurch
mein Schuldner; er ist an sein Versprechen gebunden, und ich kann Erfüllung
des Vertrages von ihm fordern. Ich kann ihm aber auch die Erfüllung
des Vertrages erlassen, wenn er einverstanden ist, und dann ist er wieder
frei. Darüber sind die Meinungen einig. Sollte dies für die Ehe
nicht auch gelten? Sollten die Eheleute nicht berechtigt sein, in voller
Freiheit einander die Erfüllung des Ehevertrages zu erlassen und sich
gegenseitig die Freiheit zurückzugeben, wenn die Umstände dafür
sprechen? Ich möchte das nicht verneinen, denn wir haben das Recht,
über unsere Person zu verfügen, wenn kein Unrecht dadurch
geschieht. Dies ist der entscheidende Punkt, denn all unser Leid wurzelt
in der Schuld, und ein grosser, wenn nicht der grösste Teil dieser
Schuld besteht darin, dass wir die Rechte anderer Menschen missachten.
Die Kirche sagt dagegen, die Ehe sei mehr als ein bürgerlicher Vertrag,
sie sei ein Sakrament und von Christus für unlösbar erklärt
worden. Betrachten wir nun die Worte, die hier in Frage kommen. Christus
sagte: "um der Härte eures Herzens willen hat Moses euch die Scheidung
vom Weibe erlaubt." Das heisst, auf die Gegenwart bezogen: wenn ihr die
Liebe, Nachsicht und Vergebung, die ihr euch gelobt habt, nicht geben könnt,
weil ihr gar so tief gefallen, so hartherzig seid, moralisch auf sehr niederer
Stufe steht, so mögt ihr euch trennen um des Friedens willen, denn
es ist besser, in Frieden sich trennen als in Unfrieden und Hass beieinander
bleiben. Denn wenn ihr beieinander bleibt in Unfrieden und Hass, so verfehlt
ihr nicht nur eure Aufgabe, euch zu bessern durch Vergebung und Nachsicht,
sondern ihr vertieft auch euren Fall und häuft weitere schwere Schuld
auf euch, die ihr später sühnen müsst. - Aus solchen Gründen
halte ich die Scheidung für erlaubt in Fällen, wo die Eheleute
Rückschritte statt Fortschritte machen würden."
"Und der Scheidebrief, von dem im Evangelium gesprochen wird?"
"Dieses Wort bezieht sich auf die rohen Sitten jener Zeit. Damals war
das Weib dem Manne nicht gleichberechtigt, sondern es war nur eine Sache,
so eine Art besseres Haustier, das der Mann beliebig entlassen konnte,
wenn es ihm nicht mehr gefiel. Die gesetzliche Form für die Entlassung
war der Scheidebrief."
"Wer ein Weib ansieht, ihr zu begehren, hat schon die Ehe mit ihr gebrochen
in seinem Herzen."
"Damit wollte er sagen, dass die Sünde nicht nur in der vollendeten
Tat bestehe, sondern schon im Gedanken, sie zu tun. Der Gedanke ist die
Wurzel der Sünde, die Tat ist nur die Folge des Gedankens. Wer die
Sünde vermeiden wolle, dürfe nicht mit dem Gedanken der Sünde
spielen. Dies Wort ist also eine Begriffsbestimmung des Ehebruchs in seiner
feineren Form."
"Und wer die Abgeschiedene freit, der bricht auch die Ehe."
"Ein unklares Wort, und wahrscheinlich unvollständig. Wir dürfen
annehmen, dass Christus mit den Jüngern und Pharisäern die Ehefrage
viel ausführlicher besprochen hat als in den Evangelien steht; daher
dürfen die einzelnen Worte nicht für sich allein, sondern müssen
im Zusammenhang mit dem ganzen Problem betrachtet werden. Wie kann ein
lediger Mann oder Witwer, der eine gesetzlich geschiedene Frau heiratet,
die Ehe brechen, da doch keine Ehe mehr besteht? Das Wort wird jedoch klar,
wenn man unsere vorhin genannten Gründe einer erlaubten Ehescheidung
auf jenen rohen Brauch der Juden anwendet. Ich sagte, bei der Ehescheidung
dürfe kein Unrecht geschehen. Der Frau geschah aber brutales Unrecht,
wenn sie vom Manne einseitig und gegen ihren Willen entlassen wurde, denn
ein Vertrag kann nur mit beiderseitiger freiwilliger Zustimmung einwandfrei
gelöst werden. Eine einseitig vom Manne gelöste Ehe war also
in moralischer Hinsicht nicht gelöst, und nun wird verständlich,
dass jemand, der eine solche Frau heiratete, einen Ehebruch beging. Nach
dem bürgerlichen Recht jener Zeit war die geschiedene Frau frei, aber
sie war es nicht nach moralischem Recht. Diesen tieferen Sinn des Ehebandes
hat Christus mit jenem Wort gemeint, und nur im Hinblick auf jene Zeit.
Heute ist die Frau dem Manne gleichberechtigt, und wenn sie der Scheidung
freiwillig
zustimmt und wenn beide Gatten darauf achten, dass kein Unrecht geschieht,
so sind sie frei und das Verbot der Kirche, dass ein geschiedener Gatte
nicht wieder heiraten dürfe so lange der andere Gatte noch lebe, hat
anscheinend keinen Grund mehr."
Als Erna die Verse 10-12 bei Matthäus 19 vorgelesen hatte, sagte
Friedmar: "Luther hat diese Verse nicht gut übersetzt; eine bessere
Übersetzung von Stage lautet: Da sagten die Jünger zu
ihm: wenn es so steht mit dem Scheidungsgrund, auf den der Mann
allein gegen seine Frau sich stützen darf, dann ist es besser, nicht
zu heiraten. Er sprach zu ihnen: nicht alle verstehen den Grundsatz, den
ihr da aufstellt, dass es nämlich besser ist, nicht zu heiraten, sondern
nur die, denen das tiefere Verständnis dafür gegeben ist. Es
gibt nämlich Entmannte, die so geboren sind vom Mutterleibe her; es
gibt andere, die von den Menschen entmannt sind; und es gibt endlich solche,
die sich selbst entmannt haben um des Himmelsreiches willen, d.h. die auf
die Ehe freiwillig verzichten. Wer es verstehen kann, verstehe es! - Dieser
letzte Satz deutet an, dass es in der Ehefrage noch Gesetze und Zusammenhänge
gibt, die den Menschen unbekannt sind - was man übrigens auch noch
aus andern Gründen vermuten darf."
"Das muss wahr sein, denn Christus sprach an dieser Stelle noch einige
Worte, die auf solche Gesetze und Zusammenhänge hindeuten, so als
er sagte: "was Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht
trennen", und "vom Anbeginn ist es nicht also gewesen." Was hat Gott zusammengefügt,
und wie war es denn von Anbeginn? Kann nicht jener Satz als Verbot der
Ehescheidung aufgefasst werden?"
"Man kann ihn so verstehen, und er wird wohl auch so verstanden, aber
er ist nicht eindeutig und gestattet auch noch eine andere Auslegung. Ich
muss wieder auf unsere Erschaffung zurückgehen. Gott schuf Geister,
nicht Menschen, und zwar so, dass er zwei Geister ungleicher Polarität,
einen Manngeist und einen Weibgeist, auf einen gemeinsamen Grundton abstimmte,
ihnen eine gemeinsame, nur ihnen eigene Prägung gab, die sie von allen
andern Geistern unterscheidet; zwei Wesen, zwei Individualitäten,
aber harmonisch aufeinander abgestimmt und in gleicher Harmonie mit keinem
andern Geist übereinstimmend. Vereint wurden sie durch ein gemeinsames
Fluidum, durch ein magnetisches Band, nicht in dem Sinne, dass sie nun
wie durch einen Strick aneinander gebunden waren, sondern so, dass dieses
dehnbare, magnetische Band der unsichtbare Faden war, an dem sie, wenn
getrennt, immer wieder zueinander fanden. So bildeten sie zwei Hälften
eines Ganzen, gleich den Polen eines Magneten. Dieses Ganze umfasst Liebe,
Weisheit, Kraft und Schönheit. Der Anteil der einen, der positiven,
gebenden Hälfte, des Manngeistes, ist Weisheit und Kraft, der Anteil
der andern, der negativen, nehmenden Hälfte, des Weibgeistes, ist
Liebe und Schönheit. In dieser Verbindung der beiden Geister, in dieser
Verteilung der Gaben ist kein Teil dem andern übergeordnet, kein Teil
gegen den andern benachteiligt; beide Geister sind gleichwertig und gleichberechtigte
Hälften eines Ganzen. Von der Vierheit der Gaben bilden Liebe und
Weisheit die obere, mehr geistige Stufe, Kraft und Schönheit die untere,
mehr materielle Stufe, und Liebe fühlt sich zur Weisheit, Kraft zur
Schönheit hingezogen. Ein materielles Abbild dieser Ordnung sind Mann
und Weib; der Mann liebt und sucht am Weibe die Schönheit und die
Liebe, das Weib am Manne die Weisheit und die Kraft."
Friedmar fuhr fort: "Solange die Geisterpaare im Gesetz wandeln und
mit Gott eins sind, bleiben sie auch untereinander harmonisch und können
gemeinsam, ohne Trennung das ihnen bestimmte Ziel: Vollkommenheit und Seligkeit,
erreichen. Anders, wenn sie aus dem Gesetze treten, mit Gott uneins werden,
also fallen; dann werden sie auch untereinander uneins, weil sie noch unvollkommen
sind und jedes andere Gelüste hat; das magnetische Band zerreisst,
sie trennen sich und irren als einzelne Hälften in der Welt umher,
erscheinen in der materiellen Welt als Mann und Weib, tragen in sich die
Sehnsucht nach der andern Hälfte, nach der Ergänzung, nach der
Dualseele oder Gattenseele, suchen sie und finden sie nicht, verbilden
ihre Individualität durch Sünden mancherlei Art und müssen
viele Leiden und Sühnen durchmachen, bis sie soweit gereinigt und
fortgeschritten sind, dass sie, erst selten, dann häufiger, zu einander
geführt werden und dann schliesslich wieder gemeinsam der Vollkommenheit
zustreben können. Während der Zeit der Trennung aber leiden sie
durch unglückliche Ehen oder Einsamkeit, da sie die harmonisch abgestimmte
Dualseele nicht finden, und auch wenn sie selbe finden, sind beide zuweilen
so verbildet durch Sünde, dass sie keinen Frieden miteinander haben,
obwohl sie sich durch eine unerklärliche Sympathie gegenseitig angezogen
fühlen. Denn die ihnen von Gott gegebene Prägung kann durch Sünde
wohl verdeckt, aber nicht vernichtet werden, und dies ist auch die Ursache,
dass sie sich schliesslich doch wieder finden, finden müssen, auch
wenn sie durch Äonen und Welten getrennt. In der Harmonie mit Gott
und miteinander, im gegenseitigen Nehmen und Geben liegt die unaussprechliche
Seligkeit der heilig gewordenen Geister, eine Seligkeit, von welcher das
Glück auch der glücklichsten Ehe auf Erden nur ein schwacher
Schatten ist, und diese Seligkeit sorgt auch dafür, dass den Geistern
die Ewigkeit nicht lang wird. So also war es von Anbeginn geordnet, und
so hat Gott die Geister zusammengefügt. Sollen wir aber dies Wort
in dem Sinne auffassen, dass wir ein durch Sinnlichkeit oder andere unlautere
Motive zusammen gekommenes und dann gesetzlich verbundenes Paar als von
Gott zusammengefügt betrachten? Das hiesse ja dem Schöpfer die
Torheiten und Laster der Menschen aufbürden. Diese Auffassung ist
widersinnig, die andere ist vernünftig; sie ist übrigens nicht
ganz neu, obwohl in dieser klaren Form noch nicht ausgesprochen. Der Glaube
der Griechen, ich meine, dass Plato im "Gastmahl" den Aristophanes sagen
lässt, Mann und Weib seien in der Urzeit in einem Körper
vereinigt gewesen, ist wahrscheinlich nur die dunkle, missverstandene Ahnung
von der Dualität der Geister, wie ja auch die Paradiesfrage das materielle
Abbild einer geistigen Wahrheit ist."
"Wie wunderbar!", sagte Mechthildis, "nun verstehe ich manches im Liebesleben
besser. Aber sagt, Friedmar, hat wirklich jeder Mensch eine Gattenseele,
und ich auch? Und gibt's ein Mittel, sie zu finden? Ist die sogenannte
Liebe auf den ersten Blick das Zeichen, dass diese Menschen zusammengehören?"
"Gewiss habt auch Ihr eine Gattenseele, und vielleicht denkt sie jetzt
gerade an euch und sehnt sich nach euch. Ein Mittel, sie zu finden, gibt
es nicht; Ihr könnt nicht mehr tun als moralisch fortzuschreiten und
Gott bitten, dass er euch die Gattenseele finden lasse. In Geduld abwarten,
was kommt. Es ist selten, dass die Gattenseelen sich finden auf Erden.
Zuweilen begegnen sie sich und wissen es nicht, wie es mir erging."
"Bitte, bitte, erzählen."
"Aber Kind, wie kann man nur so neugierig sein", sagte Erna.
"Mutter, das ist doch sehr interessant; wir sind doch Freunde, und
ich sage es nicht weiter."
"Da ist nicht viel zu erzählen. Ich lebte mit Elsa sehr glücklich.
Nach ihrem Tode sprach sie mit mir durch Medium Adelma und sagte
mir unter anderem, dass wir Duale seien. Der Schutzgeist des Mediums, ein
hoher Geist, der sich in diesen Dingen auskannte, hat es bestätigt.
Das ist wieder so ein Fall, dass man persönlich von der Wahrheit der
Mitteilung überzeugt sein kann, aber unfähig ist, sie andern
zu beweisen."
"Warum finden sich die Dualgeister nur selten auf der Erde? Wenn sie
sich häufiger fänden, gäbe es weniger unglückliche
Ehen."
"Das Eheglück hängt nicht allein davon ab, sondern vor allem
von der moralischen Stufe der Eheleute. Auch Dualgeister können so
tief gesunken sein, dass sie als Eheleute sich schlecht vertragen, und
dualgeistig nicht zusammengehörige Menschen können in harmonischer
Ehe leben, wenn die Charaktere zusammenpassen. Was nun die unglücklichen
Ehen betrifft, deren Zahl ihr vermindert sehen möchtet, so gehören
sie in das Gebiet der ausgleichenden Gerechtigkeit und sind daher von grossem
Wert für den geistigen Fortschritt, so seltsam dies auch scheinen
mag. Da die allermeisten Geister die Erde sich wiederholt einverleiben,
so kommt es vor und gar nicht selten, dass Geister, die in einem Erdenleben
als Eheleute verbunden waren, auch in einem folgenden Erdenleben so verbunden
sind, und zwar besonders dann, wenn sie einander was schuldig geworden
sind, dass sie sühnen müssen. Die Einverleibungen werden dann
so geleitet, dass diese Menschen sich infolge oft sonderbarer Umstände
begegnen und sich ehelich verbinden. Wenn dann der Rausch der Sinne verfliegt
und die Untugenden sich mehr und mehr zeigen, beginnt entweder der Leidensweg
der Vergeltung, wobei die Rollen oft vertauscht sind und die Ehegatten
sich gegenseitig plagen und nicht selten dies auch gern tun, oder sie gehen
den Leidensweg der Sühne durch geduldiges Ertragen der gegenseitigen
Mängel, durch Vergebung und Nachsicht. Beide Wege sind schwer, mit
dem Unterschied, dass der zweite Weg die Ehegatten moralisch fördert,
während der andere Weg sie mit neuer Schuld belädt. Es ist auch
möglich, dass der eine Teil sühnt durch Vergebung und Nachsicht,
während der andere Teil verstockt bleibt. Von allen diesen Eheleuten
kann man sagen, dass Gott, genauer ausgedrückt, das von Gott gegebene
Gesetz der Sühne sie zusammenführt, und es ist also nicht ratsam,
die Ehe zu trennen, denn die Eheleute berauben sich dadurch der Gelegenheit,
die Härten und Mängel ihres Charakters abzulegen und ihre gegenseitige
Schuld zu tilgen."
"Gut, aber was geschieht, wenn sie sich doch trennen? Sie wissen ja
nichts von diesen Dingen."
"Einmal müssen sie die Schuld tilgen, und wenn sie es jetzt nicht
tun, so sehen sie sich in einem folgenden Erdenleben wieder vor dieselbe
Aufgabe gestellt, und so lange gestellt, bis die Aufgabe gelöst ist.
Vom gegenseitigen Freimachen in Liebe, das viel Schuld tilgen könnte,
wissen diese Menschen nichts, und wenn sie es wüssten, würden
sie es in ihrer Verstocktheit und Bosheit wahrscheinlich nicht tun. So
bleibt nur das Leiden als Sühne. Ich bin nun geneigt, das Christuswort
"was Gott zusammenfügt, soll der Mensch nicht trennen" auf die eben
besprochenen Ehen - Sühne-Ehen - zu beziehen, weil es darauf passt,
während das andere Wort "aber von Anbeginn ist es nicht also gewesen"
das Dualgesetz der Geister betrifft. - Anders verhält es sich mit
Ehegatten, die einander nichts schulden aus einem früheren Erdenleben.
In solchem Falle ist es weniger bedenklich, die Ehe zu trennen, wenn die
Charaktere sich als unverträglich erweisen und Gefahr besteht, dass
die Eheleute durch Fortsetzung der Ehe sich mit Schuld beladen und Rückschritte
machen statt Fortschritte. Das Gebot, sich gegenseitig in Geduld und Nachsicht
zu ertragen, gilt allerdings auch hier; sollte es aber zu schwer fallen,
so scheint die Ehescheidung der richtige Ausweg zu sein."
"Aber weiss man, ob die Ehegatten von früher her einander moralisch
verschuldet sind oder nicht?"
"Das weiss man nie, und darum scheint die Ehescheidung in jedem Falle
eine bedenkliche Sache zu sein, denn immer besteht die Möglichkeit,
dass man eine Torheit begeht und sich neue Leiden schafft. Wenn die Menschen
wüssten, in welche Gefahren sie sich begeben durch leichtfertiges
Heiraten, würden sie sich den Schritt gründlicher überlegen.
Vernünftige Belehrung allein kann die Zahl der unglücklichen
Ehen vermindern."
"Meinst du das wirklich?" wandte Hallerstede ein. "Ich erwarte von
der Belehrung nicht viel. Die jungen Leute, blind in ihrer Verliebtheit,
pflegen auf Rat und Belehrung nicht zu hören. Und nicht nur jungen,
auch alten Leuten verdreht die Liebe den Kopf. Ein bekanntes Beispiel dafür
ist Goethe, der sich als alter Mann über siebzig in ein junges Mädchen
verliebte. Man könnte auf den Gedanken kommen, die Eheschliessungen
zu erschweren und erst nach einer gewissen Prüfungs- und Belehrungszeit
zu gestatten, aber abgesehen davon, dass man sich solche Eingriffe in die
persönliche Freiheit nicht mehr gefallen lässt, haben wir in
der Kriegszeit und nachher gesehen, dass Gebote und Verbote der Behörden
gern umgangen werden, und die eigentliche Ursache der unglücklichen
Ehen, die Unvollkommenheit der Menschen, bleibt ja doch bestehen. Wenn
Gesetze einer höhern, unsichtbaren Welt unser Leben leiten, wie du
sagst, sehe ich nicht ein, wie man in den Lauf der Dinge eingreifen und
Unglück verhüten könnte. Es kommt doch alles so, wie es
kommen muss."
"Dieser letzte Satz ist richtig, wenn man ihn richtig versteht", sagte
Friedmar, "aber du gehst zu weit, wenn du die Belehrung für ganz unnütz
hältst. Ich meine, dass eine kleine Anzahl kluger Köpfe, doch
darauf hören wird. Wenn der Mensch sich Unglück bestimmt hat
zur Sühne, d.h. wenn er als Geist es sich vor der Einverleibung gewählt
hat, wird es ihn treffen; wenn er aber nicht zu sühnen hat durch eine
unglückliche Ehe, so kann er durch Torheit zwar in Unglück geraten,
aber er kann auch auf Vernunft hören und Unglück vermeiden. Die
Anzahl dieser Vernünftigen ist zweifellos gering gegen die Anzahl
der Toren, aber sie sind vorhanden, und dieser Umstand würde die Belehrung
rechtfertigen."
"Was mich betrifft", sagte Mechthildis, "so sollt Ihr recht haben und
nicht an mir vorbeigeredet haben. Ich will vorsichtig sein und frei nach
Schiller gründlich prüfen, bevor ich mich binde - weiss ich doch
jetzt, dass auch die Folgen des Hasses über das Grab hinaus dauern
können. Und tröstlich ist mir auch die Erkenntnis, dass es ein
unter allen Umständen gültiges Verbot der Ehescheidung nicht
gibt."
"Nein, in der moralischen Weltordnung gibt es kein solches Verbot;
der Mensch hat die Freiheit des Handelns. Er soll aber die Umstände
erwägen, soll bedenken, dass er den Folgen seiner Taten nicht entgehen
kann; dann mag er nach bestem Ermessen handeln."
"Wollt Ihr uns nicht auch etwas sagen über den Zustand der Ehegatten
nach dem Tode?" bat Erna.
"Dieser Zustand hängt ab von der Art ihres Erdenlebens. Lebten
sie harmonisch miteinander, so finden sie sich drüben wieder und der
Vorangegangene pflegt den andern bei dessen Tode abzuholen. Sind sie keine
Duale, so leben sie miteinander und mit andern Geistern in Freundschaft,
bis im Laufe der Zeit ihre Wege sich trennen durch neue Einverleibungen
und später jeder Gatte seine Dualseele findet. Haben sie als Menschen
schwer an- oder miteinander gesündigt, so können sie sich ebenfalls
im Geisterlande finden, sind nun aber durch Schuld verbunden und müssen
in späteren Einverleibungen sühnen. Waren die Ehegatten moralisch
sehr ungleich, so kommt jeder an den Ort, der seiner Stufe entspricht,
und es kann lange dauern, bis sie sich begegnen, auch ist möglich,
dass sie sich nicht wiedersehen. Alles geht gesetzmässig, aber eine
Regel kann man nicht aufstellen, man kann nur in grossen Zügen den
Verlauf angeben."
"Ich bin froh, dass Ihr uns in dieser wichtigen Frage so klar belehrt
habt, wie wir es bisher nirgendwo gefunden. Unter unsern Bekannten sind
nämlich einige Ehepaare, die nicht wissen, ob sie sich trennen sollen
oder nicht. Jeder einzelne ist ein vortrefflicher Mensch, und doch leben
sie aneinander vorbei. Vielleicht kann ich die Verhältnisse ein wenig
klären."
"Belehren dürft Ihr, aber im Ratgeben seid vorsichtig, damit Ihr
euch nicht in das Schicksal dieser Menschen verstrickt durch unrichtige
Beratung. Ihr kennt nicht ihre Vergangenheit und nicht ihre Aufgabe für
dieses Erdenleben und könnt darum leicht unrichtig beraten. Mischt
euch nicht ein und lasst sie ihren eigenen Weg gehen. Sie müssen die
Folgen ihres Tuns tragen und dürfen sich darum entschliessen nur aufgrund
eigenen Nachdenkens. Aber Ihr könnt ihnen die Entschliessung erleichtern,
indem Ihr sie über die Gesetze der moralischen Weltordnung unterrichtet,
und auf diese Weise könnt Ihr wohl ein gutes Werk tun. Übrigens
bemerke ich noch, dass nicht nur Ehegatten durch das Karmagesetz zusammengeführt
werden, sondern auch andere Menschen; sie begegnen sich als Freunde, Feinde,
Bekannte, als Eltern und Kinder, um alte Rechnungen zu begleichen, allerdings
nur dann, wenn solche Rechnungen über das Mass des Alltäglichen
hinausgehen. Und schliesslich können Rechnungen auch im Jenseits ausgeglichen
werden. Wo der Ausgleich stattfindet, ist nicht so wichtig, als dass er
überhaupt stattfindet."
"Nun zu etwas anderem", sagte Mechthildis. "Als ich eben achtlos im
Neuen Testament blätterte, fiel mein Blick auf einen Ausspruch Christi,
der mir schon früher sonderbar vorkam, mir heute aber ganz unverständlich
ist: so dir jemand auf den rechten Backen schlägt, dem biete den andern
auch dar! Wozu das?"
"Ich halte das Wort nicht für echt. Nimmt man es buchstäblich,
so ergibt sich kein vernünftiger Sinn. Welchen Zweck hätte es,
jemanden, der mich ohrfeigt, einzuladen, mich noch mehr zu schlagen? Das
würde seinen Übermut stärken und mir unnütz Schmerz
bereiten, ohne dass einer irgendwelchen Nutzen davon hätte. Das Wort
ist sinnlos, und seine Befolgung würde letzten Endes dazu führen,
Torheit und Laster zu stärken. Will man ihm aber den Sinn unterlegen,
dass man den Widersacher durch Grossmut gewinnen soll, so ist der Ausdruck
ungeschickt und unverständlich. Ebenso steht es mit dem folgenden
Vers: so jemand mit dir rechten will und deinen Rock nehmen, dem lass auch
den Mantel. - Die beiden folgenden Verse sollen sagen, dass man in der
Hilfe nicht kleinlich sein möge. Immer aber ist zu bedenken, dass
man das Laster nicht unterstützen soll. - Es gibt Menschen - Bibelmaterialisten
nenne ich sie - die jedes Bibelwort buchstäblich nehmen und dadurch
zu seltsamen, ja sinnlosen Ansichten kommen und diese Ansichten auch noch
eifrig verteidigen - kein Wunder, dass des Haders kein Ende ist und nicht
wenige Menschen sich ganz von der Bibel abwenden."
"Ihr kennt gewiss die Ansicht einiger Gelehrter, dass Christus überhaupt
nicht gelebt habe. Ich hörte darüber einen Vortrag. Der Redner
sagte, die Evangelien seien eine Mischung von astrologischen, mythologischen
und religiösen Sagen und Vorstellungen morgenländischer Völker
und als Geschichtsquelle unzuverlässig. (Fussnote 16)
Ihr scheint anderer Ansicht zu sein, denn wenn Ihr jenen Gelehrten zustimmt,
würdet Ihr euch wohl nicht bemüht haben, uns das Glaubensbekenntnis
und andere Lehren so ausführlich zu erklären."
"Es lässt sich nicht bestreiten, dass die Evangelien fremde Zusätze
und Bestandteile enthalten, und man kennt auch einigermassen die Herkunft
derselben. Gewiss ist auch, dass die Evangelien keine Originale sind, sondern
Niederschriften mündlicher Überlieferungen und schriftlich festgelegt,
soviel man bisher ermitteln konnte, frühestens etwa gegen Ende des
ersten Jahrhunderts unserer Zeitrechnung. Also die Urschriften besitzen
wir nicht, sondern nur Abschriften, und die ältesten dieser Schriftrollen
stammen aus dem vierten Jahrhundert. Wenn nun ein Werk durch so viele Hände
geht, darf man wohl bezweifeln, dass die Abschriften und Übersetzungen
immer ganz getreu waren, auch wenn man die besten Absichten bei den Schreibern
voraussetzt. Die Evangelisten schrieben nicht als Historiker in unserem
Sinne, sie schrieben als begeisterte Anhänger der Lehren ihres Meisters
und nahmen es mit der geschichtlichen Wahrheit nicht so genau, wie wir
jetzt verlangen würden. Sie schrieben die Berichte so nieder wie sie
selbe verstanden, liessen weg, setzten zu oder veränderten je nach
ihrer Auffassung, nicht um zu fälschen, sondern um ein abgerundetes,
zusammenhängendes Ganze[s] zu schaffen und um den Meister zu ehren
und zu verherrlichen. (Fussnote 17) Diese Umstände
vermindern den
historischen Wert der Evangelien und erklären
auch die Beimischungen fremder Bestandteile und die Ähnlichkeit mit
Sagen und Erzählungen anderer Völker.
Weiter weisen die Kritiker darauf hin, dass die Profanliteratur jener
Zeit von einem Lehrer und Wundertäter Jesus nichts berichtet. Alles
dies kann man zugeben, ohne jedoch genötigt zu sein, das Erdenleben
Christi ganz zu leugnen. Das Beiwerk und die Ähnlichkeit mit andern
Sagen und Mythen vermindert wohl den historischen Wert der Evangelien,
beweist aber nicht, dass sie nun ganz und gar Dichtung sind. Es ist sehr
wohl möglich, dass ihnen Tatsachen zugrunde liegen, ein Kern, den
die Phantasie oder frommer Eifer mit allerlei Zutaten aus den damals umlaufenden
Sagen und Mythen ausgeschmückt hat. Ein solcher Vorgang wäre
nicht ungewöhnlich; alle Völker lieben es, ihre weltlichen und
religiösen Helden ins Übermenschliche zu steigern. Magier und
religiöse Schwärmer waren damals nicht selten und erregten kein
besonderes Aufsehen, die Lehren aber, die Christus verkündete, scheinen
den Literaten jener Zeit - wenn sie überhaupt davon erfuhren - unverständig
[unverständlich; Anm.d.Erf.], unnütz und nicht beachtenswert
gewesen zu sein. Wäre Christus ein Eroberer, ein Feldherr gewesen
oder ein bedeutender Dichter oder Philosoph, der weltliche Weisheit lehrte
und schriftlich niederlegte, so hätten die Literaten ihn wahrscheinlich
bekannt gemacht, aber über einen einfachen, sonderbare Lehren verkündenden
Rabbi zu berichten, dazu fühlten sie sich nicht veranlasst. Auch ist
noch etwas anderes zu bedenken. Die jüdische Priesterschaft in ihrem
glühenden Hass wird nichts unterlassen haben, alle Christus betreffenden
Zeugnisse, deren sie habhaft werden konnte, zu vernichten, die wenigen
Schriftrollen aber, die dieser Vernichtung entgingen, mögen in den
Unruhen jener Zeit auf andere Art verloren gegangen zu sein. Wie dem auch
sei: das Schweigen der zeitgenössischen Schriftsteller über Jesus
ist kein Beweis gegen sein Erdenleben. Ein Beispiel möge das klar
machen. Wenn ich an einem Ort gelebt habe, und die Schriftstücke,
die mich und mein Wirken betreffen, gehen verloren, so ist das Fehlen dieser
Schriftstücke doch kein Beweis, dass ich nicht dort gewesen bin oder
garnicht gelebt habe. Jener vermeintliche Beweis gegen das Erdenleben Jesu
schmeckt doch sehr nach dem bekannten Wort: was nicht in den Akten ist,
ist nicht vorhanden. Wenn die Evangelien den Anforderungen, die man heute
an historische Dokumente stellt, nicht genügen, so steht anderseits
die Behauptung, dass Christus nicht gelebt habe, ebenfalls auf schwachen
Füssen. Ich meine sogar, dass der Beweis für die Behauptung nicht
zu erbringen ist, so sehr auch einige Gelehrte sich darum bemühen.
Denn wenn man den Beweis des Erdenlebens Christi von unangreifbaren schriftlichen
Zeugnissen abhängig macht, kann man immer einwenden, dass die Zeugnisse
verloren gegangen seien und dass ihr Fehlen also nichts beweise. Auf diese
Art ist der Streit also nicht zu entscheiden, da es immer von der geistigen
Einstellung des Forschers abhängt, welchen Umständen er die stärkere
Beweiskraft beilegt.
Dagegen hat man mit Recht darauf hingewiesen, dass eine so grosse geistige
Bewegung, wie das Christentum sie darstellt, nicht von selbst entstehen
konnte nur aus dem Zeitbewusstsein heraus, wie man den Zustand jener Zeit
genannt hat. Ein solches Entstehen wäre eine Wirkung ohne Ursache
gewesen. Die Disposition war vorhanden, aber sie allein genügte nicht,
es musste auch der Anstoss, eine Kraft da sein, welche die Wirkung auslöste
und in eine bestimmte Richtung trieb. Diese Kraft war so eigenartig, so
auf ein klar erkennbares Ziel gerichtet, dass sie sich aus dem Zeitbewusstsein
allein nicht erklären lässt. Ein Beispiel aus der Gegenwart:
die heutige Sozialdemokratie hatte die Disposition zu ihrer Entstehung
in der schlechten wirtschaftlichen Lage der Arbeiter, aber das geistige
Gepräge gab ihr Karl Marx. Wenn nun nach tausend Jahren unsere
Bibliotheken spurlos verschwunden sein werden - wozu infolge des schlechten
Druckpapiers alle Aussicht besteht -, so werden die Gelehrten jener Zeit
die Existenz von Karl Marx mit den gleichen Gründen bestreiten können,
die man heute gegen das Erdenleben Christi anführt - wenn sie sich
nur auf starre Logik und unangreifbare Dokumente stützen und wichtige
andere Umstände ausser acht lassen. Bei so einseitiger Einstellung
ist es nicht erstaunlich, dass ein kritischer Kopf das Erdenleben Christi
leugnet, besonders, wenn er sieht, wie es in den Kirchen zugeht."
"Du hast dich so entschieden geäussert, dass ich annehme, du stehst
auf festem Grunde."
"Nach meiner Ansicht haben die für das Erdenleben Christi sprechenden
Beweise das Übergewicht, die Beweise der Christusleugner sind nicht
zwingend. Was aber die Kritiker der Evangelien auszusetzen finden: Widersprüche,
Unstimmigkeiten, Ähnlichkeiten mit Sagen und Mythen anderer Völker
und die Benützung von Sprüchen der jüdischen Literatur,
so betrifft das nur die Form, nicht das Wesen der Lehre Christi. Der Kern
dieser Lehre ist so klar, dass man ihn von den Nebensachen deutlich unterscheiden
kann. Es gehört nicht zum Wesen der Lehre Christi, dass alle seine
Worte absolut neu und originell sein mussten - warum sollte er eine vorhandene
Weisheit nicht ebenso wieder aussprechen dürfen, wie auch unsere Schriftsteller
gelegentlich fremde Weisheit wiederholen? Auch ist es eine nicht unbegründete
Vermutung, dass gerade das Originale seiner Lehre, seine tiefste Weisheit
nicht aufgezeichnet worden ist, weil sie überhaupt nicht verstanden
wurde. Dagegen war es der Zweck des Erdenlebens, durch sein Erscheinen
und seinen Wandel ein leuchtendes, für alle Zeiten gültiges Beispiel
und Vorbild der Liebe zu geben und dem Sehnen und Suchen der Menschen einen
untrüglichen Weg zu weisen. Die Kraft dieses Anstosses erkennt man
an den Wirkungen, sie ist beispiellos und unberechenbar und durchaus noch
nicht erschöpft. Die Torheit der Menschen hat die reine Lehre verdunkelt
und missbraucht und den Zweck seines Erscheinens verkannt, das Licht drohte
zu verlöschen und ein grober, ganz auf das Diesseits gerichteter Materialismus
schien das religiöse Leben vieler, vieler Menschen zu ersticken -
nun offenbart sich seit Jahrzehnten die Geisterwelt in allen Zungen, um
uns zu sagen, dass die Seele nach dem Leibestode fortlebe, dass es ein
Jenseits gebe und dass die Lehre der Liebe und der ausgleichenden Gerechtigkeit
kein Wahn sei. Hohe Geister bezeugen Christi Leben und Wirken im Jenseits
und als Herrscher unserer Erde. Sie bezeugen auch sein Erdenleben und seinen
Tod am Kreuz und sagten, beiläufig bemerkt, dass er Schriften hinterlassen
habe, die samt den Urevangelien von den Jüngern vergraben worden seien
aus Furcht vor den Juden, aber wieder aufgefunden werden sollen, wenn die
Zeit dafür gekommen sei. Das wird sich später zeigen. Auch meine
Frau hat mir von Christus berichtet. So ist diese Frage für mich gelöst.
Mir genügen diese Zeugnisse als Bekräftigung der Evangelien,
andern werden sie nicht genügen, den Materialisten nicht, weil sie
die Existenz von Geistern überhaupt nicht anerkennen, den Orthodoxen
nicht, eben weil sie von Geistern kommen."
"Ich meine, wir können diese Frage vorläufig auf sich beruhen
lassen", sagte Hallerstede. "Ich halte die Frage der Wiedereinverleibung
des Geistes von grösserer praktische Bedeutung, insofern sie eine
unendliche und interessante Mannigfaltigkeit der Lebensschicksale in sich
begreift, und darum würde ich gerne noch mehr darüber hören.
Greifen wir wieder hinein ins volle Menschenleben. Ich hatte einen Vetter,
der war blödsinnig. Der Menschheit ganzer Jammer packte mich an, wenn
ich diesen Unglücklichen sah. Taub, stumm, halb gelähmt, lebte
er stumpfsinnig dahin. Sein hartes Los liess mich an der Gerechtigkeit
Gottes verzweifeln, aber zu urteilen nach dem, was ich von dir gehört,
denke ich jetzt anders über den Fall und vermute, dass da eine geheime
Gerechtigkeit waltet, aber wie? Die Theologen stehen da wieder vor einem
peinlichen Rätsel. Sie sagen, das Erdenleben solle uns auf das Jenseits
vorbereiten, aber dieser Blödling und viele, viele andere Geistesschwache
und Dummköpfe sind ja unfähig dazu. Warum gibt Gott dem einen
klaren Verstand, dem andern Irrsinn?"
"Derartige schwere Leiden sind eine Sühne früherer Sünden.
Welcherart der Geist dieses Mannes in einem früheren Erdenleben gesündigt
hat, entzieht sich zwar unserer Kenntnis, Mitteilungen hoher Geister über
ähnliche Fälle lassen aber schliessen, dass er in seinem vorigen
Leben grausam und gewalttätig war und sich gegen seine Mitmenschen
schwer versündigte. Vielleicht war er ein harter Despot, ein Ketzerbrenner,
vielleicht nur ein Scheusal in seinem privaten Kreise. So verhärtete
Geister bedürfen einer entsprechend harten Sühne. Das Leiden
dieses Geistes bestand darin, dass er eingesperrt war in einen Körper,
dessen Organe ihm keine Möglichkeit gaben sich zu äussern; er
befand in einem ähnlichen Zustand wie etwa ein mit Ketten gefesselter
Gefangener in einem sehr engen Kerker. Vergesst nicht: wie der Geist sündigt
durch den Körper, so sühnt er auch durch den Körper; immer
ist der Geist der Urheber, der Körper nur Werkzeug."
"Jetzt glaube ich zu verstehen die dunklen Worte Christi bei der Heilung
des Blindgeborenen", sagte Erna. "Jesus sagte: weder hat dieser gesündigt
noch seine Eltern, sondern dass die Werke Gottes offenbar würden an
ihm. Das soll wohl heissen, dass nicht dieser Mensch gesündigt hat,
sondern sein Geist in einem früheren Erdenleben, wofür er nun
sühnt. Aber dazu passen die folgenden Worte nicht "sondern dass die
Werke Gottes offenbar würden an ihm." Ist es vereinbar mit der Liebe
und Gerechtigkeit Gottes, dass er einen Menschen lange und bitter leiden
lässt, um seine Macht an ihm zu zeigen?"
"Ihr seid auf dem richtigen Wege", sagte Friedmar, "und ich brauche
nur wenig nachzuhelfen, um den Sinn klar zu machen. Dies Wort ist wieder
ein Beispiel dafür, dass man nicht am Buchstaben kleben darf, sondern
in den Sinn eindringen muss. Gott ist so gross, dass er nicht nötig
hat, den Menschen seine Werke zu offenbaren auf so harte Weise. Der wahre
Sinn ist ein anderer. Ich bin überzeugt, dass bei der Niederschrift
der Evangelien an dieser Stelle einige Worte ausgefallen sind, die den
wahren Sinn herstellen. Der Vers soll wahrscheinlich so lauten: weder hat
der Mensch gesündigt noch seine Eltern, sondern sein Geist hat in
einem früheren Erdenleben schwer gesündigt, und nun, nachdem
dieser Mensch willig geworden ist zum Guten, heile ich ihn, damit offenbar
werde, dass Gott mir die Macht gegeben hat, solche Werke zu tun. In dieser
Form würde der Vers übereinstimmen mit andern Aussprüchen
Christi, worin er wiederholt sagt, dass nicht er wirke, sondern der Vater
durch ihn, und dass er die Zeichen tue zum Beweise seiner göttlichen
Sendung. Die so begründete Heilung steht im Einklang mit der Liebe
und Gerechtigkeit Gottes, wobei ich euch erinnere an die Belehrung, die
über das Binden und Lösen gegeben wurde."
"Hat mein Vetter diese Sühne freiwillig übernommen? Mir scheint
das zweifelhaft."
"Der Geist eines bösen Menschen befindet sich nach dem Verlassen
des Körpers in Dunkelheit oder Finsternis, weil die dichten, schweren
Fluide, die er durch die Sünde an sich gezogen hat, ihn wie eine undurchsichtige
Hülle umgeben und ihn vom Lichte abschliessen. Und auch sein inneres
Licht, sein Erkenntnisvermögen, ist verdunkelt. In diesem Zustande
kann er Jahrzehnte und Jahrhunderte bleiben in seelischer Pein und Unzufriedenheit.
Dann kommt eine Zeit, wo er seine schlechten Taten um sich sieht, die Bilder
oder Gespenster seiner früheren Opfer wollen sich auf ihn stürzen
und ihn peinigen, und er, unfähig ihnen zu entrinnen, leidet sehr
unter diesen Phantomen, die aber meist nur seine eigenen Schöpfungen
sind, sozusagen kinematographisch reproduzierte Gedankenbilder seines eigenen
bösen Innern. Aber auch wirkliche, hass- und wuterfüllte Geister,
denen er früher Unrecht getan, können ihn erschrecken und verfolgen.
Er ist in der Hölle, und die Hölle ist auch in ihm. Ich sagte
euch schon, das Jenseits sei der von uns nicht wahrgenommene ätherische
Teil der Welt; es ist also überall, aber es ist nicht überall
gleich. Wie es im Diesseits schöne und unschöne, angenehme und
unangenehme Gegenden gibt, wie auf den Bergen die Luft reiner und dünner
ist als in der Ebene, so ist es auch im Jenseits. Die der Erdoberfläche
am nächsten liegenden Regionen sind mehr oder minder dunkel, unschön,
unangenehm, während mit zunehmender Entfernung vom Erdball die Regionen
lichter, schöner, angenehmer werden. Die dichten, schweren Luftschichten
und die dichten, schweren Fluide befinden sich also gleicherweise unten,
dem Erdball am nächsten. Wie nun ein Gasballon so lange steigt, bis
er sich mit der Luft im Gleichgewicht befindet, so kommt auch der Geist
durch seine spezifische Schwere, d.h. die Schwere seiner Fluide, in die
Regionen, wo die guten Geister leben, er bleibt unten in den unangenehmen
Regionen und findet dort Geister, die ihm ähnlich sind. Er befindet
sich also auch äusserlich in der Hölle, nicht in der Hölle
der Teufel mit Pferdefuss und Feuerhaken, sondern in der Hölle,
die überall ist, wo böse Geister und böse Menschen einander
plagen..." "wie auf der Erde", unterbrach Hallerstede, "die Erde ist eine
Hölle."
Friedmar lächelte vielsagend. "Oh, du ahnungsvoller Engel du!
In dieser innern und äussern Hölle, die sich je nach der Individualität
des Geistes verschieden gestaltet in den Einzelheiten, bleibt der böse
Geist so lange, bis er unter dem Druck des Leidens einen Ausweg aus diesem
peinlichen Zustand sucht, sich nach Hilfe sehnt. Dann kommen gute Geister
und belehren ihn, dass er seiner quälenden Unzufriedenheit nur durch
ernste Reue und Sühne ledig werden könne, und er, durch Schaden
klug geworden, entschliesst sich zur Sühne, zu der Sühne,
die seiner Sünde entspricht und ihm einen moralischen Fortschritt
ermöglicht. Das Leben eines Blödlings ist allerdings nur Sühne,
der Fortschritt kommt in solchem Falle erst nach dem Ende der Sühne.
Aber die meisten Sühnen sind nicht so hart und sind oft Sühne
und Aufgabe und Fortschritt zugleich."
"Also ist die Lehre vom Himmel und Hölle und Fegefeuer doch nicht
ganz ohne Grund", meinte Erna. "Wie ich euren Worten entnehme, enthalten
viele Lehren der Kirche einen wahren Kern, der aber missverstanden und
mit allerlei Beiwerk umhüllt wurde."
"So ist es. Es gibt eine Hölle, die aber nicht das Werk Gottes,
sondern der gefallenen Geister ist, und man braucht auch nicht ewig darin
zu sein. Um nun aber nicht auch missverstanden zu werden, sage ich ausdrücklich,
dass meine Beschreibung der Sühne des Blödlings nur ein Bild
in allgemeinen Zügen ist, ein Bild, das sich bei jedem Geist verschieden
gestaltet, seiner Eigenart gemäss. Der reine, gute Geist, der nicht
durch Sünde grobe, schwere Fluide an sich gezogen hat, gelangt nach
dem Leibestode sofort oder bald in lichte, angenehme Regionen. Zwar muss
auch er eine Selbstprüfung durchmachen, muss vergleichen, was er gewollt
und war er erreicht hat, aber diese Prüfung dauert nicht lange und
macht ihm keine höllische Pein. Dann kann er von Stufe zu Stufe, von
einer Seligkeit zur andern steigen, lernend, lehrend, geniessend die Ewigkeit
hindurch als Mitarbeiter Gottes in die Schöpfung."
"Der Geist des Blödlings hat die harte Einverleibung anscheinend
doch nicht freiwillig übernommen, sondern unter dem Druck des Leidens",
wandte Hallerstede ein, "das scheint mir der Freiheit des Geistes zu widersprechen."
"Ich glaube nicht. Hier ist die Frage: hat ein so tief gesunkener Geist,
der Sklave seiner Laster und Leidenschaften, überhaupt noch Freiheit?
Je tiefer der Geist sinkt, um so mehr verliert er seine Freiheit. Je höher
und reiner die Erkenntnis, um so grösser die Freiheit. Das Leiden
ist die Folge des Falles, der Geist hat es sich selbst zugezogen. Der Geist
ist gefangen in den Folgen seiner Taten. Diese Folgen, sein unangenehmer
Zustand, sind sein Werk, sein selbsterworbenes Eigentum, das ihm nicht
genommen werden darf, und aus diesem seinem Eigentum heraus erwacht in
ihm der Wunsch und Wille, seine Lage zu verbessern. Dieser Wille tritt
demnach nicht als etwas Fremdes von aussen an ihn heran, sondern entsteht
in ihm selbst, ist also frei in dem Sinne, wie wir die Freiheit definiert
haben, dass nämlich keine fremde, äussere Macht den Geist zu
irgend etwas zwingt. Man muss nur weit genug zurückgreifen, so wird
alles klar."
"Ich entnehme daraus", erwiderte Hallerstede, "dass Geister auf mittlerer
und höherer Stufe eine grössere Freiheit bei der Einverleibung
haben als niedere Geister, etwa so, wie kleine unerfahrene Kinder die ihnen
zugewiesene Schule besuchen, während der erwachsene Mensch die Schule
wählt, die ihn am meisten fördert."
"Der Vergleich ist richtig im allgemeinen. Massgebend für Art,
Ort und Zeit der Einverleibung ist die Aufgabe, die der Geist sich stellt
für sein nächstes Erdenleben, ob sie nun auf Sühne, auf
Fortschritt oder auf beides abzielt. Schuld, die gesühnt werden muss,
verringert die Freiheit der Wahl und führt den Geist zu einem Elternpaar,
das ihm Gelegenheit zur Erfüllung seiner Aufgabe gibt. Immer aber
ist die Einverleibung gerecht und bestimmt durch die Stufe des Geistes
und durch die Aufgabe, die er im Erdenleben zu leisten hat. Auch für
die Einverleibungen gelten die vier Grundlagen der moralischen Weltordnung:
Liebe, indem Gott den Geist nicht verloren gehen lässt und ihm soviel
Einverleibungen gibt als er braucht; Weisheit, indem das Erdenleben dem
Zweck entsprechend gewählt wird; Gerechtigkeit, indem der Geist das
Erdenleben bekommt, das er verdient; Freiheit, indem der Geist wählen
darf, soweit dies sich mit dem Zweck verträgt. Es ist also nicht so,
dass, wie die Inder lehren, jeder Geist, ob hoch oder nieder, nur durch
sein Karma sozusagen automatisch dem ihm gemässen Elternpaar zugeführt
wird. Diese Ansicht beruht auf ungenügender Kenntnis der moralischen
Weltordnung. Dass viele Geister die Einverleibungen nicht richtig benützen
oder dass sie sich irren in der Wahl, ist eine andere Sache und hat nichts
zu tun mit der Ordnung, nach welcher sie geschehen."
"Also steht jeder Mensch an dem Platz, den er sich durch sein Verhalten
in der Vergangenheit selber bestimmt hat?" fragte Hallerstede gespannt.
"Gewiss. Ich wiederhole: der Geist ist seines Glückes und Unglückes
Schmied, und nur er allein. Der Mensch aber ist nur eine vergängliche
Erscheinungsform des Geistes für eine begrenzte Zeit und zu einem
gewissen Zweck."
"Diese Lehre ist von unermesslicher Tragweite", sagte Hallerstede,
"und in diesem Licht betrachtet, scheint die soziale Ordnung ja gerecht
zu sein, vollkommen gerecht, obwohl sie, oberflächlich betrachtet
die grösste Ungerechtigkeit zu sein scheint."
"Ich halte sie für gerecht, gebe aber zu, dass diese Gerechtigkeit
nicht leicht zu erkennen ist und dass sie vielen, wahrscheinlich den meisten
Menschen nicht gefällt."
"Ich hatte sie mir anders gedacht und glaube, dass deine Ansicht heftigem
Widerspruch begegnen wird."
"Ob die Gerechtigkeit gefällt oder nicht, danach werden wir nicht
gefragt. Die Sonne leuchtet doch, auch wenn wir die Augen dem Lichte verschliessen.
Wenn die Menschen die Gerechtigkeit nach ihrem Gefallen oder ihrer beschränkten
Erkenntnis zu bestimmen hätten, möchte ich mich dieser Gerechtigkeit
nicht unterwerfen."
"Wird man nicht deine Theorie als Dogma hinstellen, erfunden zu dem
Zweck, die Menschen in Unterwürfigkeit vor Thron und Altar zu erhalten
und besonders die Unterdrückung der Armen und Schwachen zu begründen
und zu beschönigen?"
"Das kann man und wird es wahrscheinlich auch tun, wenn sie eine grössere
Verbreitung erlangt haben wird. Die Möglichkeit, als Dogma hingestellt
zu werden, teilt sie mit jeder andern Lehre und Hypothese, die sich sinnlich
durch greifbare Tatsachen beweisen lässt. Wer Liebe, Weisheit, Freiheit
und Gerechtigkeit nicht anerkennt als Grundlage der moralischen Weltordnung,
möge eine bessere Grundlage nennen. Wer sie aber anerkennt, wer logisch
denken und unbefangen zu urteilen vermag, wer ehrlich genug ist, sich neuen
Erkenntnissen, Wahrheiten und Tatsachen nicht zu verschliessen, der hat
ja Gelegenheit, nachzuprüfen, ob und wie weit Lehre und Wirklichkeit
übereinstimmen. Unbeugsame Wahrheitsliebe, unbefangenes und streng
logisches Denken sind allerdings erforderlich zu einem gerechten Urteil.
Um nur eins herauszugreifen: wie kann man die grosse Verschiedenheit der
Menschen in der moralischen und geistigen Begabung bei gleicher Rasse und
Abstammung besser und einfacher erklären als durch die Verschiedenheit
der die Menschenkörper belebenden Geister? Diese Erklärung ist
einfach und löst die Frage restlos, während die Versuche, die
Ungleichheit der Menschen aus der Umwelt, der Vererbung und den Windungen
der Gehirnhaut zu erklären, sich als verfehlt erweisen und nur einige
Äusserlichkeiten, aber nicht den Kern der Frage betreffen.
"Was deine andern Bedenken betrifft", fuhr Friedmar fort, "so sei unbesorgt;
die Geistlichen aller [christlichen; Anm.d.Erf.] Konfessionen, mit wenigen
Ausnahmen, hassen die Lehre von der Wiedereinverleibung des Geistes, weil
sie nicht in der Bibel steht - was übrigens nicht ganz richtig ist
-, hassen sie auch noch aus andern Gründen. Wenn nicht besondere Umstände
eintreten, werden die Geistlichen diese ihnen unangenehme Lehre noch lange
abweisen. Deine Besorgnis nun, diese Lehre könnte die Ausnutzung der
Armen durch die Reichen rechtfertigen, ist ebenfalls hinfällig, denn
diese Lehre sagt wohl den Armen, dass sie sich ihr Los selber bestimmt
haben, aber sie sagt auch den Reichen, dass sie den Missbrauch des Reichtums
werden büssen müssen. Ob arm oder reich: jeder erntet die Folgen
seines Tuns und seiner Gesinnung. Die Forderung der Sozialisten, dass jedem
Menschen der volle Ertrag seiner Arbeit zuteil werde - in der moralischen
Weltordnung ist sie in aller Strenge erfüllt. Eine vollkommenere Gerechtigkeit
kann ich mir nicht denken. Der Arme, der den Reichen beneidet, war in seinem
vorigen Erdenleben vielleicht selbst ein reicher Mann, aber einer, der
den Reichtum übel erwarb und übel anwandte. Der Arme dagegen,
der nach Tugend strebt, hat Aussicht, in einem folgenden Leben reich zu
sein, um auch die Probe des Reichtums zu machen. Und diese Probe ist viel
schwerer zu bestehen als die Probe der Armut, denn der Reiche hat viel
mehr Gelegenheit zu sündigen als der Arme, braucht also auch mehr
Kraft, der Versuchung zu widerstehen. Und die Versuchungen können
in so lockender, harmloser Form erscheinen, dass sie als solche nicht erkannt
werden und daher doppelt gefährlich sind. Gar mancher Geist, der die
Probe des Reichtums mit ungenügender Kraft unternahm, versank in Sünde
und Laster und schuf sich dadurch bitteres Leid. Aber Gott liess es geschehen,
weil er wusste, dass dies Leid den verirrten Geist auch wieder auf den
rechten Weg bringen werde. Durch Schaden wird man klug, ist ein Sprichwort,
das nicht nur für das vergängliche Erdenleben gilt."
"Du magst recht haben, aber ich meine: wenn deine Lehre auf Wahrheit
beruht, kann sie doch nur Segen bringen, und darum sollte sie allgemein
verbreitet werden. Wie ist doch unser gesellschaftliches Leben zerfressen
von Neid und Hass; in der Politik ist es überhaupt nicht mehr zum
Aushalten, Wahn, Lüge, Gier und Hass sind kaum noch zu überbieten,
Kriege und Umstürze folgen sich unaufhörlich und das Volk kommt
nie zur Ruhe. Ekelhafte Zustände! Da muss doch etwas Durchgreifendes
geschehen, sonst gehen Staat und Gesellschaft zugrunde, und gerade die
Kirchen, welche die moralische Führung der Menschheit beanspruchen,
wären in erster Linie berufen, eine neue, wahre Lehre zu verkünden,
denn die alte Lehre hat gründlich versagt."
"Du verlangst zu viel von den Kirchen. Woher sollen sie die Wahrheit
nehmen, solange sie sich nur auf die Bibel stützen und diese meist
materiell auslegen? Sie werden sagen: wozu eine neue Lehre? Gottes Gebot
der Nächstenliebe ist da, das genügt vollauf, wenn es befolgt
wird. Die Folgen des Hasses liegen offen vor aller Augen; wenn die Menschen
nicht hören und sehen wollen, müssen sie eben fühlen."
"Gewiss, das Gebot ist da, und es ist auch gut. Aber warum befolgen
die Menschen das Gebot nicht? Weil sie denken: mit dem Tode ist alles aus,
Vergeltung gibt's nicht, wozu also tugendhaft sein, wenn die Untugend so
viel vergnüglicher ist? Benutzen wir die Macht und die Gelegenheit
und nehmen wir, was wir nehmen können, ob mit Recht oder Unrecht ist
einerlei. Geniessen wir, soviel wir können, denn wir leben nur einmal,
und ein Tor ist, wer verzichtet. Zuerst komme ich und nochmal ich, und
dann die andern noch lange nicht. So denken unzählige Menschen und
leben danach, und die Folge ist der Krieg aller gegen alle. Also das Gebot
ist da, aber es hat keine treibende Kraft, denn die Menschen verkennen
den Zweck ihres Erdenlebens und sehen nicht die Folgen ihres Tuns, sie
sehen nicht die ausgleichende Gerechtigkeit. Ich sah sie ja auch nicht.
Da könnte die Geisterlehre helfen, den Menschen die Folgen ihres Tuns
zu zeigen. Und gerade die Kirchen könnten in der Geisterlehre die
Begründung des Moralgebotes finden. Das Moralgebot an sich ist einseitig,
denn die Menschen kümmern sich wenig darum, wenn sie nicht einsehen,
warum sie so oder so handeln sollen."
Friedmar sah den Freund erstaunt an. "Schon so eifrig für die
neue Lehre?"
"Du wunderst dich, dass ich deine Gedanken weiter spinne. Ich will
dir sagen, warum. Ich bin Mitbesitzer einer Fabrik und erfahre täglich,
wie sehr verhetzt und störrisch viele Arbeiter sind, besonders die
jungen, und dies infolge der materialistischen Weltanschauung und der Meinung,
des Fabrikanten grösste Wonne sei, sich vom Schweiss der Arbeiter
zu mästen, wie die verrückte Phrase lautet. Ich bestreite nicht,
dass die Fabrikanten menschliche Schwächen haben und sündigen,
aber ich bestreite entschieden, dass sie bloss die Blutsauger sind, als
welche man sie gern hinstellt, oder dass sie auch nur schlechter sind als
die Arbeiter. Jedenfalls haben die Arbeiter noch nicht den Beweis erbracht,
dass sie besser handeln, wenn sie die Macht haben. Eher dürfte das
Sprichwort recht haben: wenn der Knecht auf's Pferd kommt, reitet er schärfer
als der Herr."
Friedmar schwieg eine Weile, dann sagte er: "Zunächst eine persönliche
Bemerkung. Ich zweifle nicht, dass dein Erdenleben mit der Stellung als
Fabrikherr dir bewilligt worden ist auf deinen eigenen Wunsch. Erfülle
deine Aufgabe, d.h. sei wohlwollend und gerecht gegen deine Untergebenen
soviel du vermagst, unbekümmert um die Meinung der Menschen. Lebst
du so, dann lebst du recht, dann bestehst du die Probe des Reichtums und
brauchst nicht in einer spätern Einverleibung die bittere Sühne
der Armut und Abhängigkeit zu schmecken. Für das andere lass
den Himmel sorgen, der das besser versteht. Dein Wunsch, dass die neue
Lehre sich auch praktisch auswirken möge, ist verständlich, aber
ich halte es nicht für gut, diese Auswirkung künstlich herbeiführen
zu wollen. Ich bezweifle nämlich, dass die europäische Menschheit
im grossen ganzen jetzt schon reif dafür ist, was ja nicht ausschliesst,
dass viele Menschen sie begierig aufnehmen und ihr Leben danach führen.
Wenn auch die Zahl ihrer Anhänger in Europa und Amerika einige Millionen
betragen mag, so will das noch nicht viel bedeuten. Die Geisterlehre vorzeitig
und gewaltsam für irdische Zwecke nutzbar machen zu wollen heisst
sie missbrauchen. Zweifellos wird sie dereinst, in ferner Zukunft, eine
segensreiche Wirkung auf die sozialen Zustände haben, aber wenn heute
die untern Volksklassen merken, dass diese Lehre sie zahm und gefügig
machen soll, werden sie sich gegen sie wehren, und mit Recht. Diese Lehre
darf sich nur in Freiheit ausbreiten, ohne den geringsten Zwang durch kirchliche
und weltliche Behörden und andere Nutzniesser. Eine Lehre, welche
die Freiheit als wesentlichen Bestandteil der moralischen Weltordnung ausgibt,
darf nicht durch Zwang verbreitet werden."
"Ich verstehe, dachte auch nicht an Zwang, bin aber immer noch der
Meinung, dass die Kirchen berufen wären, die Wahrheiten der Geisterlehre
zu verbreiten, da sie doch die Verkündigung des Wortes Gottes als
ihr Amt und ihr Recht beanspruchen. Du schüttelst den Kopf? Nun, wenn
die Kirchen, also die Geistlichen, nicht dazu berufen sind: wer anders
soll es sein? Warum sollen so viele Kräfte brachliegen?"
"Gewiss sind sie berufen in dem Sinne, dass sie sich einverleibt haben
zu dem Zwecke, das Wort Gottes rein und wahr zu verkünden, und sie
werden auch Rechenschaft geben müssen, wie sie ihre Aufgabe gelöst
haben. Aber so, wie sie jetzt geistig eingestellt sind, werden sie über
die Lösung der Aufgabe anders denken als wir. Du denkst dir die Sache
zu einfach. Auch abgesehen davon, dass sie die Geisterlehre eben nicht
als Gottes Wort ansehen, sondern eher als das Werk eines bekannten schwarzen
Herrn, stehen ihnen äussere und innere Hindernisse im Wege. Sie sind
durch Weib und Kind und Amt wie mit ehernen Ketten an die vorgeschriebene
Lehre gebunden und nur wenige haben den Mut, gegen den Strom zu schwimmen,
der Folgen wegen; du siehst ja, wie es mir ergangen ist. Als das Unfehlbarkeitsdogma
verkündet wurde, wagte nur eine beschämend kleine Anzahl von
Geistlichen zu protestieren. Würden die evangelischen Geistlichen
gegebenenfalls mehr Mut zeigen? Ich weiss wohl, dass es besonders im untern
Klerus Geistliche gibt, die gern heraus möchten aus der Enge des Dogmas,
wenn sie es ohne Gefahr tun könnten, aber ihre Oberen werden ihnen
diese Freiheit nicht geben, weil sie den Zerfall der Kirche befürchten.
Nicht minder gross sind die inneren Hemmungen. Es kostet grosse Überwindung,
altgewohnte, liebgewordene Lehren als Irrtum zu erkennen und, was noch
mehr ist, sich davon loszusagen, wenn auch nur stillschweigend. Dieses
Umlernen ist oft schwierig auch dann, wenn äussere Hindernisse nicht
bestehen. Dann sind es Eigenliebe, Unvermögen oder Bequemlichkeit,
die den Umbau der Weltanschauung verhindern. Es hat nicht jeder die Wahrheitsliebe
und die Fähigkeit, ein morsch gewordenes Gedankengebäude niederzulegen,
um es schöner und vollkommener wieder aufzubauen. Ein anderer wichtiger
Umstand ist, dass die Geisterkundgebungen wichtigen Lehren der Kirchen
widersprechen. Die hohen Geister lehren Erkenntnis, Freiheit, Geist, die
Kirchen lehren Dogma, Unterordnung, Form. Ich halte diese Gegensätze
für unvereinbar. Will man sie dennoch vereinen, so wird wahrscheinlich
die materielle Seite, die Form, die Oberhand gewinnen und der Geist wird
wieder gefesselt sein. So wie die Dinge heute liegen, kann man von den
Kirchen ein anderes Verhalten kaum erwarten. Die Dinge haben eben ihre
eigene Logik."
"Wie denkst du dir die Zukunft der Kirchen? Sie können in dieser
Form doch nicht ewig bestehen bleiben, wenn immer mehr Menschen, und gerade
die intelligentesten, sich von ihr abwenden."
"Ich kann nur einige vorsichtige Vermutungen aussprechen, und bin mir
wohl bewusst, dass auch diese Vermutungen vielleicht noch zu kühn
sind. Aber soweit man aus der Gegenwart auf die Zukunft folgern darf, könnte
man in anbetracht der Zustände, Hemmungen und wirkenden Kräfte
etwa folgendes sagen: Die römische Kirche wird sich wahrscheinlich
nicht ändern. Nachdem sie sich Unfehlbarkeit zugesprochen hat, ist
nicht einzusehen, wie da eine durchgreifende Änderung stattfinden
kann, ohne dass sie ihre Grundlage preisgibt. Durch die vermeintliche Unfehlbarkeit
hat die Kirche sich selbst zu Starrheit und Stillstand verurteilt, hat
sie sich ihre künftige Bahn genau vorgezeichnet, und so, nach einem
bekannten Wort, wird sie sein wie sie ist, oder sie wird nicht sein. (Fussnote
18) Aber so lange es noch so viele geistig unselbständige Menschen
gibt, die andere für sich denken und sich gern führen lassen,
die einen reichen, prunkvollen Formendienst für Gottesdienst halten
und in ihm ihre Gemütsbedürfnisse befriedigen, so lange braucht
die römische Kirche für ihren Bestand nicht zu fürchten,
auch wenn die Zahl ihrer Anhänger im Laufe der Zeit sich erheblich
vermindern sollte. Vielleicht gewinnt sie dafür auf der andern Seite
durch Vereinigung mit der griechischen Kirche.
"Die andern Kirchen befinden sich in besserer Lage, da die Hindernisse
des Fortschritts weniger in einer für unfehlbar ausgegebenen Lehre
bestehen als in der Starrheit der Kirchenbehörden. Wenn eine Anzahl
ehrlicher, mutiger Pfarrer sich darauf besinnen, dass sie "Protestanten"
sind und gegen unhaltbare Dogmen und halsstarrige Behörden protestieren
nach dem Vorbild Luthers, so ist der Bann gebrochen und die Bahn frei für
den Fortschritt. Diese Pfarrer müssten sich aber vorher zu Schutz
und Abwehr vereinigen, denn sie haben es mit einem rücksichtslosen
Gegner zu tun, an dem der Einzelne zerbrechen würde. Ob diese mutigen
Männer aufstehen werden, darüber sage ich nichts, ich würde
es aber bedauern, wenn es nicht geschähe. Einmal, früher oder
später, müssen die Kirchen Stellung nehmen zur Geisterlehre,
die das Christentum verjüngen und neu beleben soll auf Gottes Gebot.
(Fussnote
19) Da gibt es kein Ausweichen. Die Geisterlehre wird wachsen und
sich ausbreiten, Christus und die hohen Geister sind ihre Träger,
reine Medien und ehrliche Geistforscher ihre Werkzeuge. Menschentorheit
wird ihre Ausbreitung wahrscheinlich erschweren und verzögern, und
ich halte es nicht für ausgeschlossen, dass Orthodoxe und Materialisten
sich verbinden werden, sie gemeinsam zu bekämpfen und auszurotten,
aber das Ziel werden die Gegner nicht erreichen, denn Wahrheiten lassen
sich nicht auf ewig unterdrücken. Hohe Geister sagen, das Christentum
werde wieder auferstehen, keine Macht der Erde könne dies verhindern;
es sei nicht Kirchentum, sondern ewige Wahrheit, es sei Philosophie, Religion
und Wissenschaft zugleich. Und es ist, sage ich, praktische Lebenskunst,
da es uns zeigt, wie wir zu leben haben, um aus Sünde und Leid herauszukommen
und ein höheres Leben zu erlangen als die Erde bieten kann. Eilen
wir nun im Geiste einige Jahrhunderte voraus, so werden wir das religiöse
Gemeinschaftsleben in vielleicht drei Hauptgruppen geteilt sehen: erstens
die katholische Kirche, nicht oder nur wenig verändert gegen heute;
zweitens die Gruppe der Gleichgültigen und Ungläubigen; drittens
die Geistergläubigen in verschiedenen Untergruppen. Diese dritte Gruppe
wird an Zahl vermutlich die kleinste sein, dafür aber die feinsten
Köpfe umfassen."
"Ihr legt grossen Wert auf die Freiheit und sagt, dass die hohen Geister
Freiheit lehren, die Kirchen aber Unterordnung. Mir ist nicht ganz klar,
wie Ihr das meint. Eine gewisse Ordnung muss doch sein, wenn eine religiöse
Gemeinschaft bestehen soll."
"Ordnung und Führung und Belehrung muss sein, so lange die Menschen
geistig schwach und unwissend sind. Aber die Führung darf nicht in
offenen oder geheimen Zwang ausarten, und die Belehrung darf nicht Irreführung
sein. Darum sollen die Führer ihr Amt nicht als Herrschen, sondern
als Dienen auffassen, wie Christus gebot. Den ehrlichen Führer und
Lehrer erkennt man an einem untrüglichen Merkmal: er sucht sich so
bald wie möglich entbehrlich zu machen, indem er den Schüler
zu geistiger Selbständigkeit erzieht. Dies ist freilich ein Ideal;
ein Ideal, das leider zu wenig beachtet wird, das daher immer wieder aufgestellt
werden muss als Leuchtturm im Meer des Zweifels und des Irrtums. Es handelt
sich hier also nicht um die äussere Ordnung, die mögen die Menschen
einrichten nach Belieben; es handelt sich um die Freiheit des Denkens in
dem Sinne, ob und wie weit ein Geist oder Mensch den andern in seinem Denken
beeinflussen und beschränken darf. Am meisten sündigt in der
Beschränkung der geistigen Freiheit die römische Kirche, die
ohne ihren Gewissenszwang nie ihre grosse Macht und äussere Einheitlichkeit
erlangt hätte, aber auch orthodoxe protestantische Geistliche erliegen
der Versuchung, die geistige Freiheit zu beschränken. Ein hoher Geist
sagte über die geistige Freiheit:
"Es ist schön, zu beobachten, wie die Wahrheit sich Bahn bricht,
wie das Wirken der herrlichen Gesetze Gottes jeden Geist umbildet zu einem
Wesen, dem es zuerst gesetzlich möglich, dann gesetzlich notwendig
ist, die Wahrheit zu erfassen, sich an ihr zu freuen, sich durch sie zu
sättigen.
Wir Geister, denen eine Teilaufgabe in der Kundgebung solcher Wahrheit
wurde, wir blicken in solche Tiefen menschlichen und geistigen Elends,
dass euer kurzsichtiges Menschenauge sich trüben würde und nimmer
fähig wäre, die grossen, einfachen Umrisse der grossen Liebe
und Gerechtigkeit Gottes zu unterscheiden. Aber wir durchblicken diese
Hülle verschiedener Leiden, die sich wie ein Nebelkreis um jeden gefallenen
Geist legt, verursacht durch seine Sünde und verursachend die Befangenheit
im Urteil des Geistes über Wahrheit und falsche Auffassung. Wir durchblicken
diese Hülle, wissen ihre Ursache, berechnen die Tragweite ihrer Folgen,
und nicht einen Augenblick ist unser Blick getrübt, nicht einen Augenblick
vermögen wir anders als ein lebendiges Dankes-Halleluja zu empfinden
beim Anblick dieser grossen Liebe und Gerechtigkeit. Und um in euch dieses
Empfinden anzuregen, suchten wir euch die grossen, einfachen Umrisse dieser
Gotteseigenschaften zu zeigen und zu beweisen. Wenn ein Mensch einen schönen
Aussichtspunkt gefunden, so wird sich wohl niemand weigern, von diesem
Menschen sich den Weg zeigen zu lassen, damit auch er sich erfreuen könne
an dem herrlichen Bild. Und dies ist alles, was wir Geister von euch verlangen.
Wir wissen, dass der Fortschritt eines jeden Geistes seine Bestimmung
ist und infolgedessen von keinem Geiste auf ewig zurückgewiesen werden
kann, aber die Zeit, wo er diese Bestimmung erkennen und dieser
Erkenntnis leben will, die ist dem gottgegebenen freien Willen des Geistes
anheimgestellt. Wir wissen, dass dieser gesetzliche Fortschritt wie ein
Berg hinaufragt in den Äther der Gotteserkenntnis, daher mit jedem
Schritt, den der Geist aufwärtssteigt, der umgebende Äther klarer,
reiner wird und dem Blick des Geistes sich immer weitere Bilder zeigen
werden, sodass seine Kenntnis der Erdkunde sich durch das Schauen mehrt,
d.h. dass sich seinem, durch den Fortschritt erstarkten Verstande die Gesetze
der Materie zeigen, und er, seiner Erkenntnis gemäss, Gesetz mit Gesetz
vergleichend und verbindend, die Materie vom Geist geleitet sieht. Um dies
gesetzlich zu ermöglichen, ist es notwendig, dass die Materie auch
geistdurchwebt sei und dass der Geist, der sich einer materiellen Welt
offenbart, Materie an sich habe, wenn auch nicht, was ihr Menschen unter
Materie versteht, aber immerhin Stoffliches.
Denn es ist ein Gesetz, dass nur Ähnliches sich Ähnlichem
kundgebe, Ähnliches durch Ähnliches geheilt werde, Ähnliches
von Ähnlichem belehrt werde. Denn nur Ähnliches kann sich Ähnlichem
zeigen wie es ist; Gezeigtsein und Verstandensein ist gleichbedeutend nur
Ähnliches Ähnlichem gegenüber.
Es gibt ein Gesetz der notwendigen Speise. Und wie das Tier jene Speise
zu finden versteht, die ihm notwendig ist zur Erhaltung seines Lebens,
wie der Pflanzenkeim im Erdenschoss das Licht zu finden versteht, dessen
er bedarf zu seiner Entfaltung, zu seinem Leben, so findet der Geist jene
Wahrheit, die als gesetzliche Wahrheit ihm notwendig ist zu seinem Fortschritt.
Da gibt es kein Zurückhalten, kein Verbergen einer Wahrheit, die dem
Geiste notwendig ist wie das Licht der Pflanze.
Und bedeckst du die keimende Pflanze mit einer Steinplatte, so wird
dieser Keim sich wohl nicht im Lichte der Sonne entfalten können,
aber die Zeiten, jene Taglöhner Gottes, die in der Materie arbeiten,
werden die Materie des Steines zerstören; zerbröckeln und zerfallen
wird das, das dem Lichte den Zutritt verwehrt, und neues Leben wird sich
regen an der langbedeckten Stelle und wird sich entfalten im Sonnenlicht,
da dieses Licht alles Leben, das in der Materie schlummert, erweckt und
zu sich emporzieht. Jene Geister, welche die deckende Hülle falscher
Auffassungen auf den von Christus gegebenen Keim der Wahrheit gelegt und
in Satzungen und Dogmen versteinert haben und dann diesen Stein vor dem
Hinwegheben bewahrt haben durch das Verbot, ihn auch nur anzurühren
- jene Geister werden nun in nächster Zeit belehrt werden, dass auch
Steine den umbildenden Zeiten verfallen und von ihnen zerstört werden,
dass das Licht von oben, als materielles Bild: Sonnenlicht, in Wirklichkeit
Gotteswahrheit, hineindringen kann, um das Leben zu erwecken, um die Wahrheit,
die unter diesem Stein ruht, zu verbinden mit der Wahrheit, die herabströmt
von oben. Diese Verbindung soll dann der Menschheit Nahrung sein, d.h.
jenem Teil der Menschheit, der sich sehnt nach einem Zeigen solcher Verbindung,
der die Notwendigkeit einer solchen Verbindung erkennt, dem daher Zeigen
und Verstehen gleichbedeutend ist.
Liebe Menschen, hütet euch zu sagen: "mir ist ein Sehnen
und Verstehen gleichbedeutend, ich habe die Wahrheit erfasst." Die ganze
volle Wahrheit zu verstehen ist nur einer Weisheit möglich, deren
Ausfluss diese Wahrheit ist.
Was ist Wahrheit? Das ist die Frage, die viele Geister bewegt und von
wenigen beantwortet wurde. Wenn sie beantwortet wurde mit "Gott ist Wahrheit",
so ist dies soweit richtig, dass es einen Gott gibt, aber das Wort "Gott"
ist bei euch die Kleidung so vieler falscher Begriffe, die ihr alle für
Wahrheit haltet, dass die Beantwortung der Frage mit diesen drei Worten
unendlich viel Unwahres zulässt. Der eine hält Gott für
ein rächendes, zorniges Wesen, der andere nimmt eine Eigenschaft Gottes,
die Kraft, und nennt sie Gott. Ein dritter macht ein Dreiwesen aus ihm,
das er selbst nicht verstehen kann, das er aber nicht anzutasten wagt,
um seinen mühsam zusammengehaltenen Glauben an eine Unmöglichkeit
nicht zu erschüttern. Was ist nun Wahrheit? Unsterblichkeit des Geistes?
Fortschritt bis zum Erreichen der Vollkommenheit? Dies alles sind nur Bruchteile.
Wahrheit
ist das geistige Gesetz, das ein Ausfluss Gottes ist.
Gott ist! Diese Tatsache lässt sich euch nicht klar beweisen,
denn nach dem Gesetz: Ähnliches Ähnlichem, ist nur solche Tatsache
euch beweisbar, die ihren Widerhall in der Materie findet, d.h. die selbst,
wenn auch das Geistigstofflichste nur, doch immerhin Stoffliches
an sich hat. Die geistigen Gesetze, durch welche die Schöpfung entstanden,
durch welche die Schöpfung geleitet wird, könnt ihr soweit erfassen,
dass ein Bild sich euren Blicken zeigt, weil diese Gesetze von dem Urgeist
Gott bis hinunter in die tiefste Materie reichen, aber dem Urheber dieser
Gesetze fehlt die Materie, weshalb Er sich dieser Materie nicht beweisen
lässt. Aber der prüfende Verstand, der jene Gesetze Gottes zu
ergründen sucht, kann sagen: "ich glaube einen Gott, obwohl ich ihn
euch nicht beweisen und nicht zeigen kann." Erst wenn die Materie überwunden
ist, vermag der Geist zu sagen: "ich sehe einen Gott", und erst nach dem
Erreichen der Vollkommenheit vermag er zu sagen: "ich verstehe diesen Gott;"
dieses Verstehen ist Seligkeit und ist doch nicht ein vollkommenes Ergründen.
(deshalb auch kann Christus nicht Gott sein, denn Gott konnte
nicht in die Materie. Es gibt eben Dinge, die sich nicht vermischen lassen.)
[siehe Fussnote 20; Anm.d.Erf.]
Wahrheit also ist das geistige Gesetz, das ein Ausfluss Gottes ist.
Gott aber ist Vollkommenheit, Vollkommenheit aber bedingt Liebe, Weisheit,
Grösse; was also nicht im Einklang mit jenen ist, kann nicht eine
Wahrheit sein, die ein Ausfluss Gottes ist. Dies also ist der Prüfstein.
Sucht ihn richtig anzuwenden, aber wenn ihr ihn angewendet habt nach eurem
besten Verständnis, dann hütet euch, das Resultat eurer Prüfung,
in bestimmte Satzungen zusammengefasst, der Menschheit als eine Glaubenslehre
aufzwingen
zu wollen. Wir Geister, die wir die Aufgabe haben, der suchenden Menschheit
finden zu helfen, wir wollen nicht, dass auch nur
ein Mensch etwas
glaube, weil wir es gesagt. Mit der Zeit werden viele Menschen sich
unserer Autorität beugen wollen und werden sagen: "dies ist herrlich,
diese Lehre befriedigt mich - ich glaube alles, was jene Geister lehren."
Dieser Nachsatz, liebe Menschen, ist ein Hindernis in der Reife eurer Erkenntnis.
Gott, das höchste Wesen, gab den Geistern die Freiheit als herrlichste
Eigenschaft. In der Freiheit sollten sie gross werden, stark in der Erkenntnis,
stark in der Liebe, um in dem Erreichen ihrer Vollkommenheit den Schöpfer
verstehen zu lernen.
Je höher also das Geistwesen, desto sorgsamer wird es sich hüten,
die Freiheit des Bruders anzutasten. Grossziehen wollen wir eure Freiheit,
denn sie ist jetzt noch eingeengt in den Fesseln eurer Sünde und der
Folgen
eurer Sünde, wie Mangel an Erkenntnis, Mangel an Interesse, Geistiges
zu prüfen, Mangel an Mut, Befangenheit in der Materie.
Auch wir Apostel fehlten, als wir Apostel auf Erden waren, indem wir
die Lehre des Meisters, nach unserer Auffassung in bestimmte Kleidung
gehüllt, der Menschheit übergaben. Ich lebte als Paulus
auf Erden, und obwohl ich in vollem Eifer, meinem so spät erkannten
Meister zu dienen, meine ganze Kraft der Verbreitung seiner Lehre widmete,
so irrte ich doch in manchem. Ich legte dem Gott, den ich nicht ergründen
konnte, die Eigenschaft der Willkür bei, indem ich zur Erklärung
der Verschiedenheit der Menschen die Prädestination als Lehre aufstellte.
Ihr fragt wohl, wie es möglich sein konnte, dass wir Apostel irrten,
da uns doch der heilige Geist gegeben war?
Liebe Menschen, der heilige Geist, d.h. der Einfluss hoher Geister,
war uns allerdings gegeben, aber ein hoher Geist nimmt nicht so
Besitz vom Menschen, dass er dessen eigenen Geist betäube und nicht
mehr sprechen lasse. Eine Besessenheit geht stets nur von niedern Geistern
aus, denn je höher der Geist, um so mehr wahrt er die Freiheit
des Bruders. Ich kam in das Menschenkleid, um Christo zu dienen, um
seine freimachende Wahrheit der Menschheit verkünden zu helfen. Grossgezogen
in der Lehre der Juden, die Erkenntnis getrübt durch die plumpe, knechtende
Materie, wandte ich mich zuerst gegen die Anhänger des Meisters. Da
ich aber voll guten Willens in die Materie gekommen war, wo wurde meine
Erkenntnis geklärt durch eine Vision. Nicht auserwählt hat Gott
mich, wie ich damals wähnte. Gott gibt nicht dem einen Menschen gute
Eigenschaften, dem andern schlechte, um dann den mehrbegabten besonders
zu belohnen. Wo wäre darin Gerechtigkeit? Nein, die Eigenschaften,
d.h. die Fehler und die Tugenden der Menschen und Geister sind ihr eigenes
Eigentum, ermöglicht durch die Freiheit ihres Willens und durch das
göttliche Folgengesetz in gewisse Grenzen gehalten, welche die ganze
Geisterschaffung in gleicher Gerechtigkeit umgeben und umgeben müssen,
sonst wäre es nicht mehr Gerechtigkeit.
Daher sprach durch mich zuweilen der Geist meines Meisters, zuweilen
andere hohe Geister, zuweilen aber mein eigener Geist, der befangen war
und Erklärungen zu geben suchte, wo ihm selbst vollkommene Erkenntnis
fehlte. Nun, wo die Zeit gekommen, dass wir wieder mit den Menschen reden
dürfen, wollen wir vor allem diese Menschen warnen vor unbedingtem
Glauben. Prüfet die Geister! Und prüfet die Lehre, welche Geister
euch geben! Ein hoher Geist wird euch nie eine Lehre aufzwingen wollen,
wird nie sagen: dies ist die ganze Wahrheit - denn die Wahrheit,
wie ich sie zu definieren versuchte, lässt sich den Erdbewohnern nur
in grossen Umrissen geben. Wer daher von solchem Umriss sagt: "seht her,
ich zeige euch ein fertiges Bild", dem fehlt es an Erkenntnis. Wer aber
dies angeblich fertige Bild den Menschen aufzwingen will, dem fehlt
es an aller Erkenntnis des göttlichen Willens. Gott zwingt keinen
Geist, er lässt nur die Folgen der Handlungen des Geistes, welche
die Folgen seiner Freiheit sind, an ihm wirken. Wenn ein Mensch seine Hand
ins Feuer legt: ist dann der Urheber der Brandwunden jener, der das Feuer
angezündet hat?
So suchet logisch zu denken, vorurteilslos zu prüfen, und ihr
werdet jenen Teil der Wahrheit finden, den ihr eurer Stufe gemäss
aufzunehmen imstande seid. Durch höchste Reinheit, durch fleckenlose
Tugend sollt ihr den Menschen zeigen, wes Geistes Kind ihr seid. Und so
zieht ihr hohe Geister an und diese reden von dem ihren. Und wenn ihr ihnen
ähnlich seid, so werdet ihr ihre Sprache verstehen. Und ihr werdet
euch vereint freuen über die Umrisse der Wahrheit, die sich euren
Blicken zeigen, weil euer freier Wille den Nebel zerteilt, welchen eure
Sünde und Sündenfolge um diese Umrisse gelegt hat. Das ist unser
Wunsch, und dieser kann nur erfüllt werden, wenn ihr prüfet,
suchet, strebet. (Fussnote 20)
"Das ist mir aus der Seele gesprochen", sagte Hallerstede, "das ist
wahre Toleranz. Zwar sollte es sich von selbst verstehen, dass man die
geistige Freiheit des Nächsten achtet, aber wie weit sind die Kirchen
noch entfernt von dieser Selbstverständlichkeit. Besonders gefällt
mir die Offenheit, womit der Apostel bekennt, dass sie nicht frei waren
von Irrtum. Solche Offenheit erweckt Vertrauen, d.h. bei mir; die Kirchen
werden sie anders beurteilen und diese Kundgebung, welche die Grundlage
ihrer Herrschaft angreift, als Lüge und Lästerung bezeichnen
und die ganze Geisterlehre als Teufelszeug verdammen. Wenn also Gott den
Geist nicht zwingt und wenn hohe Geister sorgfältig vermeiden, die
Freiheit der Brüder anzutasten, so ist im Vergleich damit die Art
und Weise, wie die Kirchen ihre Dogmen den Menschen aufnötigen, doch
wohl recht bedenklich und kann keine guten Folgen haben für die Geistlichen,
die solches tun."
Friedmar stimmte zu. "Du hast recht, die Folgen sind unangenehm. Worin
der Mensch sündigt, darin wird er gestraft, ist ein altes, wahres
Wort. Der Geist eines ehemaligen Priesters klagte mir durch ein Medium
seine Not, die er im Jenseits gehabt habe als Folge seiner Versündigung
an der geistigen Freiheit seiner Mitmenschen. Herrschsüchtige, dogmatische
Geistliche, sagte er, erwachen im Jenseits in tiefer Dunkelheit und irren
lange in düstern Gefilden umher, entsprechend der Finsternis in ihrem
Innern. Wenn ein solcher Geist seinen Irrtum einsieht, wird er belehrt,
wie er wieder gutmachen kann, entweder in einer neuen Einverleibung, oder
indem er andern geistig Blinden drüben das Licht der Erkenntnis gibt.
Das sei oft eine harte Arbeit, denn es sei leichter, das Denken eines Geistes
in Fesseln zu legen, als ihn zu befreien von den Irrtümern, die man
ihm eingeflösst habe. Es sei furchtbar, die Folgen sehen, die Konsequenzen
ziehen zu müssen der Irrtümer, die man begangen; wenn es eine
Hölle gebe, sei dies ein Teil davon. Auf meine Frage, ob ein Unterschied
gemacht werde, antwortete er, die Verantwortung der höhern Geistlichen
sei grösser, weil sie oft gegen besseres Wissen sündigten. Weiter
sagte er, dass die Geistlichen der Erde sich noch gegen bessere Erkenntnis
sträuben, weil es ihnen bequemer scheine, am Dogma festzuhalten, aber
es werde eine Zeit kommen, wo das Sträuben vergeblich sein werde,
wo sie vor Fragen gestellt würden, die sie nicht beantworten könnten.
- Es ist also kein freundliches Bild, das dieser Geist aus eigener Erfahrung
zeichnet von der Zukunft gewisser Seelenhirten, welche die Rechte ihrer
Brüder missachten, und er steht nicht allein mit seiner Behauptung.
Indessen ist auch hier zu bedenken, dass nicht nach der Schablone geurteilt
wird. War der Geistliche ein gütiger, hilfsbereiter Mensch, ein Seelenhirte
im guten Sinne des Wortes, war er nur aus Unkenntnis im Dogma verrannt,
so sind die Folgen nicht so unangenehm, und ihm kann leicht geholfen werden,
da er selbst hilfsbereit war. Entscheidend ist die gute Absicht und die
Liebe, die er bezeigte. Irrtümer der Erkenntnis wiegen nicht so schwer
wie Sünden gegen die Liebe."
"Ich sehe, es ist eine schwere, verantwortungsvolle Aufgabe, andere
Menschen zu führen, und man tut gut, die Hände davon zu lassen,
wenn man sich nicht auskennt in den Gesetzen der moralischen Weltordnung.
Aber nun ein wichtiges Bedenken: wie steht es mit der Echtheit und der
Wahrheit der medialen Kundgebungen? Einer unserer Ingenieure, der mit Medien
arbeitete, sagte mir, dass nach seiner Erfahrung die Medien wertloses Zeug
mitteilten, und dass es sich daher nicht lohne, auf diesem Weg neue Erkenntnisse
erlangen zu wollen. Infolge dieses Urteils habe ich mich nicht weiter bemüht
um die Sache und diese Dinge für Trug oder Täuschung gehalten,
aber zu urteilen nach dem, was ich jetzt von dir gehört habe, scheint
der Mann im Irrtum zu sein."
"Seine Erfahrung berechtigt ihn zu solchem Urteil; er hatte aber das
Missgeschick, dass seine Medien höhern Ansprüchen nicht genügten,
und vielleicht handelte auch er selbst nicht in lauterer Absicht, sondern
mehr zu Scherz und Unterhaltung als im Streben nach edler Wahrheit. Hohe,
reine Geister, die wertvolle Erkenntnis geben können, verkehren nicht
mit uns durch unreine, niedere Medien, sie lieben es nicht, ein Schlammbad
zu nehmen, so wenig wie wir es lieben, ein von Schmutz triefendes, greulich
verstimmtes Instrument zu spielen. Auch in anderer Hinsicht ist der Verkehr
der Geister durch Medien von vielen Umständen abhängig. Ich spreche
jetzt nur von den psychischen Medien, nicht von den Medien für physikalisch-mechanische
Erscheinungen. Nicht jeder Geist kann sich durch jedes Medium äussern.
Es ist etwa so wie bei der Übertragung elektrischer Wellen im Rundfunk.
Wenn diese Übertragung gut gelingen soll, müssen alle Geräte
in Ordnung und genau aufeinander abgestimmt sein und auch das Wetter und
die Umgebung darf nicht stören. Ähnliche Bedingungen gelten auch
für den Geisterverkehr. Gute, reine Medien sind sehr selten, denn
ein solches Medium muss nicht nur einen durchaus lauteren Charakter haben,
sondern auch seine Fluide müssen rein, fein und anpassungsfähig
sein - Eigenschaften, die sich bei einem Menschen nur selten vereinigt
finden. Die allermeisten Medien sind mittleren oder geringen Ranges, und
daher kommt es, dass so viele mediale Kundgebungen nichts taugen, oft Irrtum
und Unwahrheit enthalten. Denn niedere Medien und niedere Forscher ziehen
aus den untern Regionen niedere Geister an; diese sagen, was sie wissen
und oft auch nicht wissen, geben sich als hohe Wesen aus, sogar als Gottvater,
legen sich grosse Namen bei und freuen sich, wenn sie leichtgläubige
Menschen belügen und täuschen können, wie sie es wahrscheinlich
auch zu Lebzeiten getan haben. Man darf eben nicht meinen, dass der Geist
sofort nach dem Leibestode ein reines, weises, hohes Wesen werde. Ganz
und gar nicht. Der Geist eines törichten, unwissenden Menschen nimmt
alle seine schlechten Eigenschaften mit hinüber ins Jenseits und legt
seine Untugenden nur allmählich ab, und auch seine Erkenntnis wächst
nur langsam. Wenn also der Geist eines Durchschnittsmenschen sich äussert
durch ein Medium, so kann er keine hohe Weisheit mitteilen, sondern er
wird gewöhnliche Dinge sagen oder über seinen Zustand berichten,
der oft nicht besonders verlockend ist. Aber auch solche Mitteilungen haben
einen gewissen Wert, sie offenbaren den kläglichen Zustand vieler
Geister nach dem Leibestode, sie zeigen, dass Vollkommenheit und Seligkeit
nicht geschenkt werden, sondern erarbeitet werden müssen. Sogar sonst
kluge Menschen haben vom Zustande der Geister ganz unrichtige Ansichten,
weil sie eben die Vorstellungen, die sie sich in der Jugend aus dem Katechismus
gebildet, noch nicht vergessen haben."
"Aus dem ungleichen Zustande der Geister", fuhr Friedmar fort, "erklären
sich auch die Verschiedenheiten und Widersprüche ihrer Aussagen. Alle
Geister haben die Freiheit, sich uns mitzuteilen; da nun jeder Geist seine
Eigenart und seine besonderen Ansichten hat und da sie in sehr verschiedenen
Regionen leben, so ist es unvermeidlich, dass die Berichte aus dem Jenseits
oft nicht übereinstimmen, ja sich widersprechen. Lasse zehn Menschen
aus zehn verschiedenen Gebieten Amerika's vom äussersten Norden bis
zum Süden berichten, was sie sehen und wie sie leben, so wirst du
zehn verschiedene Berichte bekommen, die subjektiv wahr sein mögen,
objektiv aber nicht übereinstimmen, und doch kommen sie alle aus Amerika.
In der Hauptsache: Gott, Unsterblichkeit, Verantwortlichkeit, stimmen die
Aussagen der Geister auf mittlerer und höherer Stufe überein,
in Nebensachen ist viel Verschiedenheit - wie ja auch die gelehrtesten
Menschen nur in wenigen Dingen einer Meinung sind. Wer also mit Medien
arbeiten will, der studiere vorher gründlich die einschlägige
Literatur, so wird er Enttäuschungen, unnütze Arbeit und unrichtige
Urteile vermeiden. Und er lasse alle Vorurteile beiseite, ob sie nun philosophischer,
theologischer oder naturwissenschaftlicher Art sind; er gehe reinen, unbefangenen
Herzens an die Arbeit, und wenn er aufrichtigen Drang nach wahrer Erkenntnis
hat, so wird er sie früher oder später finden, denn hohe, reine
Geister, die seine lautern Absichten sehen, werden sein Streben unterstützen.
Wer aber unlauteren Herzens forschen will, etwa in der Absicht, ein argloses
Medium zu entlarven, oder die Geister bei Widersprüchen zu ertappen,
oder sich seine irdischen Vorurteile von drüben bestätigen zu
lassen - so was gibt es auch -, der wird auch finden, was er sucht, denn
auch er wird von den Geistern durchschaut, die hohen Geister bleiben weg
und niedere Geister seiner eigenen niedern Art verhelfen ihm zu Unwahrheit,
Trug und Täuschung. So bekommt jeder, was er verdient, und so ist
es gerecht."
"Demnach scheint es sehr schwierig zu sein, Wahrheit und Irrtum zu
unterscheiden, und du darfst dich nicht wundern, dass, abgesehen von allen
andern Umständen, die Geistlichen wenig Neigung verspüren zu
solch mühsamer Arbeit, deren Erfolg dazu noch zweifelhaft ist."
"Ich wundere mich auch nicht, da ich die Umstände gebührend
würdige. Und eben weil ich die Tücken des Objekts genügend
kenne, empfehle ich jedem Forscher, nicht ohne weiteres zu experimentieren,
auch wenn sich ihm Gelegenheit bieten sollte, sondern sich durch das Studium
der Fachliteratur erst gründlich vorzubereiten. Wenn er die wichtigsten
Werke dieser schon reichen Literatur kennt, könnte er finden, dass
eigenes Experimentieren ihm wahrscheinlich nichts Besseres zu geben vermag,
als was schon vorhanden ist."
"Wenn so viele niedere und unwissende Geister die Erde bevölkern,
ob einverleibt oder nicht, so wird begreiflich, dass verworrene, unbefriedigende
Zustände, Leid, Hass und Laster auf der Erde herrschen, und es besteht
wohl auch wenig Aussicht, dass diese Zustände in absehbarer Zeit sich
bessern werden. Denn so lange immer wieder niedere Geister sich einverleiben
und in so überwältigender Menge vorhanden sind, wie ich bei Betrachtung
der menschlichen Torheiten annehmen muss, so lange werden sie auch durch
ihre Unwissenheit, Torheit und Bosheit die Absichten der wenigen guten
Menschen vereiteln, und so scheint mir, dass die Menschheit zu allen Zeiten
ziemlich gleich war, gleich unwissend, töricht, lasterhaft. Durch
den Glanz der Zivilisation darf man sich nicht täuschen lassen, der
ist nur äusserer Schein, unter dem die Bestie lauert. Wir sehen geringschätzig
herab auf die sogenannten Wilden, aber im Weltkrieg waren die Zivilisierten
wilder als die wildesten Wilden."
"Du bist der Wahrheit sehr nahe gekommen: die Erde ist ein Bussplanet,
eine Schule und eine Besserungsanstalt für gefallene, meist tief gefallene
Geister, und sie wird es so lange bleiben als Gott sie dazu bestimmt, und
darum müssen die Versuche, sie zu einem Luftort zu machen, unvermeidlich
scheitern. Wer diesen Satz in seiner ganzen Bedeutung erfasst, dem ist
die wahre Ursache der verworrenen, ungerechten und leidvollen Zustände
auf der Erde mit einem Schlage klar, der wundert sich über nichts
mehr und der macht sich auch keine Illusionen, dass in absehbarer Zeit
Friede und Gerechtigkeit auf der Erde herrschen werden. Unter den Millionen
von Weltkörpern, die als Wohnstätten von Geistern und Menschen
dienen, nimmt die Erde eine sehr niedere Stufe ein, und als sehr grober,
materieller Körper ist sie der Wohnort entsprechend niederer, grober
Geister. Alle politischen und wirtschaftlichen Umwälzungen, alle Fortschritte
der Technik und die bis auf die Spitze getriebene, sich übergipfelnde
Verstandesbildung ändern nichts an dieser harten Tatsache. Die niedere
moralische Stufe der Menschheit offenbarte sich in den Greueln der Sklaverei,
der Religionskriege, der Missachtung des Weibes und des eben beendeten
Weltkrieges - womit ich nur einige der ärgsten Bestialitäten
nenne. Wenn diese Beispiele euch nicht genügen, braucht ihr nach weiteren
nicht lange zu suchen, das Meer menschlicher Torheiten aller Art ist unerschöpflich.
Man übertreibt nicht, wenn man sagt, dass die überaus grosse
Mehrzahl der Menschen sich noch kaum über das Tier erhoben hat. Und
diese Menschen voller Hass, Gier und Wahn, voller Lüge und Ungerechtigkeit
wollen friedliche und gerechte Zustände auf der Erde schaffen, wollen
sie schaffen durch politische und wirtschaftliche Mittel, also durch Mittel,
die, wie die Menschen nun einmal sind, doch nur auf Unterdrückung
und Übervorteilung der Schwächeren durch die Stärkeren abzielen
und daher immer wieder neuen Hass und Hader erregen in endloser Folge.
Das einzige und unfehlbare Mittel, friedliche und gerechte Zustände
zu schaffen, besteht darin, dass die Menschen vorher friedlich und gerecht
werden, denn im tiefsten Grunde schaffen die Menschen ihre Zustände,
und nicht ist es umgekehrt, wie man uns glauben machen möchte. Aber
von diesem Mittel spricht man nicht, weil man es nicht kennt oder nicht
kennen will. Nein, diese ungerechte, unvollkommene Menschheit kann gar
nicht anders als ebensolche Zustände hervorbringen; man kann nicht
Feigen ernten von den Dornen und nicht Trauben von den Disteln."
Hallerstede hatte sofort und voll begriffen. "Demnach sind wir alle
Sträflinge, sozusagen, und alle haben wir "lebenslänglich". Was
immer man halten mag von den Aussagen der Geister: mit der Bezeichnung
der Erde als Bussanstalt haben sie wahrlich recht, denn diese Tatsache
tritt uns überall klar und deutlich entgegen. Ich brauche keine weiteren
Beweise. Wer hier zweifelt, sieht den Wald vor lauter Bäumen nicht.
Das also ist des Pudels Kern: eine Bussanstalt! Der Kasus macht mich lachen,
so unerquicklich er sonst ist. Dank für das Wort! Es ist mir eine
Erlösung von schwerem seelischem Druck, es ist das fehlende Glied
in der Kette der Beweise, der Schlussstein, der das Ideengebäude krönt.
Mir fallen die bekannten Schuppen von den Augen, nun sehe ich klar. Man
muss die Ordnung des Ganzen kennen, wenn man die Bedeutung eines Teiles
recht verstehen will; das gilt für die Weltordnung nicht minder wie
für jede andere Ordnung. Also hat der Pessimist recht und der Optimist
auch: jener, indem er die üblen Zustände auf unserm Planeten
beurteilt und keinen vernünftigen Zweck des Daseins findet; dieser,
indem er das Ganze betrachtet und die ihm vorausbestimmte Vollkommenheit
ahnt. Wer von beiden den höhern Standpunkt einnimmt, kann nicht zweifelhaft
sein. Die orthodoxen Theologen hingegen werden von dieser Behauptung nicht
entzückt sein und sie werden den Geistern diese Erniedrigung der Erde
von einem auserwählten Gnadenort zu einer gemeinen Bussanstalt nicht
verzeihen, sie ist gar zu demütigend. Aber auch andere Menschen werden
dies harte Wort nicht hören mögen. Und doch trifft es den Nagel
auf den Kopf. Die guten, also die gebesserten Geister kehren nicht zurück
auf die Erde, während von unten immer neue Sträflinge nachrücken
und solchermassen die erdrückende Mehrzahl bilden, und da sie unfähig
sind, das Gute zu erkennen und zu tun, so sind Torheit und Unrecht und
Bosheit immer obenauf. Verständlich wird nun auch, warum die Kultur
nur so sehr langsam fortschreitet, dass man, um einen Fortschritt zu sehn,
Jahrhunderte oder gar Jahrtausende überblicken muss, und auch dabei
mag der Fortschritt nur scheinbar sein. Soll das nun ewig so bleiben, und
hat es überhaupt noch Zweck, sich um den Fortschritt der Kultur zu
bemühen?"
"Gewiss hat es Zweck. Denn obwohl wir die Früchte unserer Kulturarbeit
in diesem Erdenleben selten ernten, so ist solche Arbeit doch nicht unnütz,
denn zunächst schreitet unser eigener Geist dadurch fort, und dann
verbessern wir auch die Bedingungen für unsere nächste Einverleibung,
wenn eine solche nötig sein sollte. Wir sind unsere eigenen Erben,
und infolgedessen bietet sich jedem Geist über kurz oder lang die
Möglichkeit, herauszukommen aus der "Besserungsanstalt Erde". Im kleinen
und im einzelnen kann wohl mancherlei gebessert werden, auch mögen
zeitweilig, für Jahrzehnte oder Jahrhunderte, in etlichen Ländern
relativ befriedigende Zustände bestehen; ich halte es sogar für
wahrscheinlich - mancherlei Anzeichen deuten darauf hin -, dass eben jetzt
sich eine etwas glücklichere Zeit vorbereitet mit besserer Erkenntnis
und etwas mehr Frieden und Gerechtigkeit, sodass die Erde in der Rangordnung
der Welten eine kleine Stufe höher steigen würde. Im allgemeinen
aber wird die Erde ihren Charakter als Besserungsanstalt behalten noch
auf lange Zeit und entsprechend der Beschaffenheit der auf ihr lebenden
Geister. Aber sie soll nicht ewig auf so niederer Stufe bleiben. Es wird
eine Zeit kommen, wo sie in gewaltigen Katastrophen ihre gröbste Materie
und mit ihr die niedern und bösen Geister ausscheiden wird, und da
von dieser Zeit an keine niedern Geister mehr hinzukommen dürfen,
so werden nur fortgeschrittene Geister auf ihr wohnen und sich einverleiben
und die Erde zum Paradiese machen. Bis zu dieser Katastrophe mögen
noch Jahrtausende vergehen, wie ich einer vorsichtigen Andeutung eines
hohen Geistes entnehme."
"Eine solche Generalreinigung tut der Erde wirklich not, sonst kann
es nicht gründlich besser auf ihr werden", sagte Hallerstede. "Aus
dem Zweck der Erde, Schule und Besserungsanstalt für Geister zu sein,
und allermeist für niedere Geister, erklärt es sich nun auch,
dass wertvolle Reformbestrebungen, bestimmt, die Lage der Menschheit zu
verbessern, entweder scheitern oder auf einen kleinen Kreis beschränkt
bleiben und sich nicht durchzusetzen vermögen, eben weil die Menschen,
die sie verwirklichen oder ihren Segen empfangen sollen, weder reif sind
für die Verwirklichung, noch das für sie erstrebte Gute zu schätzen
wissen. Der Erfolg steht meist in keinem erfreulichen Verhältnis zur
aufgewandten Mühe, und so edel auch die Absichten sein mögen,
so schöpfen die Reformer doch gar oft ins lecke Fass der Danaiden.
Am ratsamsten und besten ist darum wohl, vor allem an sich selbst zu arbeiten
und sich selbst zu erlösen von Ungewissheit, Sünde und Leid,
dann ist bei ernster Arbeit der Erfolg nicht zweifelhaft und steht in gerechtem
Verhältnis zur Mühe; auch gerät man nicht in Streit, wenn
man den andern in Ruhe lässt. Nun kommt ein Aber. Deine Weltanschauung
setzt voraus, dass auch andere Weltkörper bewohnt sind. Mir ist der
Gedanke ja sympathisch, aber die Naturforscher, insbesondere die Astronomen,
sind da anderer Meinung. Sie halten von den Planeten unserer Sonne nur
noch Mars und Venus für bewohnbar. Merkur empfange etwa 8 mal mehr
Licht und Wärme als die Erde und scheine darum für Menschenwesen
unerträglich warm zu sein; Uranus dagegen empfange etwa 370 mal, Neptun
gar 900 mal weniger Licht und Wärme als die Erde, und infolge dieser
geringen Zufuhr von Licht und Wärme sei es unwahrscheinlich, dass
dort, in den eisigen Tiefen des Weltraums, organisches Leben existieren
könne. Und so lassen sich auch bei Jupiter und Saturn gewichtige Umstände
gegen ihre Bewohnbarkeit anführen."
"Die Ansichten der Astronomen in Ehren. Mit ihren Forschungsmitteln
und aufgrund ihrer Voraussetzungen können sie kaum zu andern Ergebnissen
kommen. Dennoch möchte ich annehmen, dass der eine oder andere über
die Frage der Bewohnbarkeit der Planeten seine besondere Ansichten hat,
die mit jenen Ergebnissen nicht übereinstimmen. Denn obwohl die Menge
von Licht und Wärme, welche die Planeten von der Sonne empfangen,
sich annähernd genau berechnen lässt, so genügt dies Wissen
noch nicht zu einem richtigen Urteil. Das Fernrohr zeigt dem Auge des Forschers
nur die Atmosphäre der Planeten - Mars ausgenommen -, das Spektroskop
aber sagt über die Beschaffenheit dieser Atmosphäre sehr wenig
und gar nichts darüber, wieviel Licht sie verschluckt und wie sie
den Empfang und die Abgabe der Wärme beeinflusst. Wir wissen auch
nicht, ob die sonnenfernen Planeten nicht noch genügend Eigenwärme
haben oder ob sie nicht auf andere, uns unbekannte Art - etwa durch Radioaktivität
- die zum organischen Leben erforderliche Wärme erzeugen. An Licht
aber fehlt es sogar dem Planeten Neptun nicht, denn obwohl er 900 mal weniger
Licht empfängt als die Erde, so ist das Sonnenlicht dort doch noch
etwa 500 mal heller als unser Vollmondlicht und etwa 6 mal heller als das
grelle Licht glühend flüssigen Eisens, vorausgesetzt, dass seine
Atmosphäre gleich der unserigen etwa 4/10 der empfangenen Lichtmenge
verschluckt. Die aus der äussern Beobachtung gewonnenen, gegen die
Bewohnbarkeit der sonnenfernen Planeten sprechenden Gründe sind also
nicht stichhaltig, es sind nur Vermutungen und gar zu sehr von irdisch-menschlichen
Zuständen hergeleitet. Wir dürfen aber als gewiss annehmen, dass
die Lebewesen anderer Weltkörper sich den Zuständen ihrer Welt
ebenso anpassen, wie dies die Lebewesen der Erde tun."
"Ein Neptunmensch", fuhr Friedmar fort, "muss also nicht das spezifische
Gewicht des Erdenmenschen haben, sein Blut muss nicht 37° C warm sein
und er muss nicht Luft atmen von der Beschaffenheit unserer Luft; er kann
grösser oder kleiner sein und sich anders ernähren und fortpflanzen
als der Erdenmensch und kann doch vollkommen schön und zweckmässig
gebaut sein und seine Welt ebenso schön finden wie wir die Erde, ja
noch schöner. Es verrät Befangenheit in geozentrischen und anthropozentrischen
Vorstellungen, wenn die Naturforscher andere Weltkörper und ihre Lebewesen
nach irdisch-menschlichen Zuständen beurteilen. Wenn man mit Goethe
der Anschauung ist, dass Gott die Weltkörper zu Pflanzschulen für
Geister bestimmt habe - so sagte er zu Eckermann -, so wäre es eine
grosse Verschwendung von Raum und Mitteln und seiner Weisheit und Macht
nicht würdig, wenn von den acht Planeten unserer Sonne nur drei dem
genannten Zwecke dienen könnten, während vier Riesenplaneten
unnütz im Raum rollen würden. In Übereinstimmung damit sagen
denn auch die Geister, dass alle Planeten unserer Sonne bewohnt
seien und dass alle Planetenbewohner sich der Beschaffenheit ihrer Welten
ebenso anpassten, wie wir solche Anpassung auch bei den Lebewesen der Erde
sehen. Im besonderen sagen sie, dass die Merkurmenschen noch tief unter
der Stufe der Erdenmenschen stünden, während die Bewohner der
andern Planeten sich auf höherer Stufe befänden. Jupiter sei
der angenehmste Planet unseres Systems, im Vergleich mit der Erde ein Paradies,
und die Bewohner seien halbmateriell, nicht so derb und schwer wie wir."
"Was du über die Bewohnbarkeit der Planeten sagst, ist zwar kein
voller Beweis, - der nach der Lage der Dinge wohl nicht zu geben ist und
darum auch nicht gefordert werden darf, - aber es ist eine gute Begründung
und so klar und einleuchtend, dass ich dagegen nichts einwenden möchte.
Auch ich bin der Ansicht, dass die Natur reicher sein mag als unser beschränkter
Verstand sich vorstellen kann und dass man deshalb den unzulänglichen
Massstab irdisch-menschlicher Begriffe und Vorstellungen nicht an das unfassbar
grosse Weltall anlegen darf. Das ist ein Versuch mit untauglichen Mitteln.
Alle Erweiterungen unserer Naturerkenntnis durch neue Entdeckungen und
Erfindungen zeigt uns, dass unser Denken, unsere Phantasie immer hinter
der Wirklichkeit zurückbleibt. Nicht so befriedigend finde ich deine
Behauptung, es sei eine Verschwendung von Raum und Mitteln, wenn vier Riesenplaneten
als unbewohnbar nun zwecklos im Raume liefen. Gewiss wäre das eine
Verschwendung, wenn es sich so verhielte, aber wie steht es dann mit dem
noch vielmal grösseren Riesenkörper der Sonne, die nach dem Stande
unseres heutigen Wissens auch kein organisches Leben trägt. Das wäre
eine viel grössere Verschwendung von Raum und Mitteln. Und dies wird
wohl auch von andern Sonnen oder Fixsternen gelten. Ferner ist mir unklar,
wie die Geister etwas über die Planeten wissen können, wenn,
wie du bei der Erklärung des Jenseits sagtest, die materielle Welt,
unser Diesseits, für sie verschwunden ist."
"So sagte ich. Und ich stellte Diesseits und Jenseits so schroff gegenüber,
um euch den Unterschied beider Welten und deren Wahrnehmung durch ihre
Bewohner recht deutlich zu machen. Gut, dass du mich daran erinnerst, sodass
ich die Behauptung jetzt einschränken und erläutern kann. Das
Diesseits, die materielle Welt, ist für den Geist verschwunden in
dem Sinne, dass die Materie für ihn kein Hindernis bildet; er geht
durch sie hindurch, etwa wie Luft durch einen Schwamm. Aber die Wahrnehmbarkeit
der Materie ist für ihn nicht ganz aufgehoben, sondern nur beschränkt
und verändert; wäre sie ganz aufgehoben, so könnten die
Geister nicht auf die Materie einwirken und alle Phänomene des Spiritismus
wären Täuschung. Dabei hängt es von der Art und Stufe eines
Geistes ab, wie er die Materie wahrnimmt und wie und in welchem Masse er
auf sie einwirken kann. Im allgemeinen kann als Regel gelten, dass niedere
Geister mit schwerem, grobem Fluidkörper leichter und mehr auf die
Materie einwirken können als hohe Geister. Jedoch ist solche Einwirkung
nicht ohne weiteres jedem Geist möglich, sondern hängt von Umständen
ab, muss verstanden und erlernt werden, und bildet daher verhältnismässig
sehr seltene Ausnahmen. Diese fast vollständige Trennung der beiden
Welten ist gut und nötig; bestände sie nicht, so würden
die niederen Geister unerträglichen Unfug in unserer materiellen Welt
verüben und das Leben in ihr zur Narrheit machen. Unter Materie verstehe
ich hier den anorganischen, den unbelebten Stoff, nicht den Menschen, der
ja, wie die Erfahrung zeigt, der Einwirkung der Geister leichter zugänglich
ist, auch dann zugänglich ist, wenn er die Existenz von Geistern leugnet.
Dieses Gebiet, wo zwei Welten sich berühren, ist noch wenig erforscht.
Begnügt euch daher mit diesen Andeutungen. (Fussnote
21) Soviel geht aus ihnen hervor, dass es nicht mehr erdgebundenen
Geistern möglich ist, die Nachbarwelten zu besuchen, sich über
deren Beschaffenheit im allgemeinen zu unterrichten und uns im besonderen
ein Bild der ethischen, religiösen und sozialen Zustände daselbst
zu geben. Diese Zustände lassen sich am leichtesten erkennen und sind
auch am wertvollsten für unsere Weltanschauung. Dem Physiker dagegen
möchte es interessant sein zu wissen, bei wieviel Grad das Wasser
auf dem Saturn siedet und bei wieviel Grad es auf dem Uranus gefriert.
Aber für uns haben solche Fragen keinen Wert. Die Ansicht nun, dass
die Unbewohnbarkeit der Sonnen eine grosse Verschwendung von Lebensraum
bedeute, ist nicht zutreffend. Zwar tragen die Sonnen anscheinend kein
organisches Leben materieller Art, wohl aber sind sie die Wohnstätten
hoher Geister von solcher Verfeinerung, dass die physikalischen Kräfte
und Zustände der Sonnen sie nicht berühren. Ausserdem aber schaffen
die Sonnen die Bedingungen organischen Lebens auf ihren Planeten, und so
zeigt sich nicht Verschwendung, sondern weise Benutzung von Raum und Mitteln.
"Kehren wir auf die Erde zurück. Die Ordnung der sozialen Zustände,
wie sie jetzt besteht, hat eine verborgene Seite. Indem Gott niedere und
sühnende Geister auf der Erde versammelt und sie sich hier einverleiben
lässt, gibt er ihnen Gelegenheit zu lernen, die Folgen ihres Tuns
zu schmecken, sich aneinander abzuschleifen, sich in Vergebung, Nachsicht,
Liebe zu üben und so weit fortzuschreiten, dass sie ihren Weg zur
Vollkommenheit auf schöneren, angenehmeren Weltkörpern fortsetzen
können. Auf unserem Planeten ist ein Mensch, ein Volk des andern Plage
und Teufel, die Völker werden durch ihre Regierungen und die Regierungen
durch ihre Völker gezüchtigt, ein Böses straft und frisst
das andere und wird selbst wieder gestraft und gefressen, und so geht das
Böse immer an seinen eigenen Folgen zugrunde. Nicht Gott straft die
Bösen - ich gebrauche einmal das Wort "Strafe", obwohl dieser Ausdruck
nicht zutrifft, da es sich in der moralischen Weltordnung nicht um Lohn
und Strafe, sondern um gute und ungute gesetzliche Folgen handelt
-, die Bösen tun es selbst und tun es gern, eben weil sie böse
sind. Rache ist süss, sagen sie und zeigen dadurch ihre moralische
Stufe. Zwar leiden auch die bessern Menschen in der Gesellschaft der bösen,
aber unnütz oder ungerecht ist auch dies Leiden nicht, denn selten,
vielleicht nie, ist ein guter Mensch so vollkommen, dass er im Verkehr
mit den geringern Brüdern nicht noch etwas lernen könnte. Und
ferner hat er als Geist vor der Einverleibung gewusst, dass jemand, der
einen schmutzigen Weg wandelt, nicht sauber bleiben kann. Wenn ein guter
Mensch leidet, so ist dies Leiden entweder seine eigene Wahl, indem er
es freiwillig übernahm, um fortzuschreiten und seine Kraft daran zu
üben, oder das Leiden ist Sühne von Sünden aus früherem
Erdenleben und also nicht ungerecht."
"Also daher kommt es, dass viele gute Menschen so bitter leiden: sie
waren im früheren Erdenleben nicht gut und sühnen nun. Aber warum
sind die Sühnen oft so hart wie bei einem Blödling? Würde
eine mildere Sühne nicht auch genügen, wenn der Geist seinen
Irrtum erkennt und sein Unrecht gut machen will? Widerspricht eine so harte
Sühne nicht der Liebe Gottes, der doch gewiss keinen Geist unnötig
plagen will?"
"Kein Widerspruch. Indem der Geist eine schwere Sühne übernimmt
und durchführt, bekundet und betätigt der den festen Entschluss,
gut zu machen und sich zu bessern. Eine leichte Sühne würde seinen
Willen zum Guten weniger fest machen, würde weniger nachhaltig seinen
Charakter bilden, und bei nächster Gelegenheit würde er wahrscheinlich
wieder der Versuchung erliegen. Der Zweck der Sühne ist nicht das
Leiden, sondern der Geist soll fest, stark und hart werden im Guten, gleichwie
der weiche Ton durch die Hitze hart und fest wird in der schönen Form,
die der Künstler ihm gegeben. Hierbei wollen wir aber nicht vergessen,
dass der neugeschaffene, reine, aber noch weiche Geist diese Festigkeit
im Guten erreichen kann auch ohne Leiden. Gott wäre nicht vollkommene
Liebe, wenn er durch Leiden erringen liesse, was seine Weisheit und Allmacht
auch ohne Leiden erreichbar machen könnte."
"Gar nicht selten entsteht Leiden auch durch eigene Schuld der Menschen",
sagte Erna. "besonders durch Leichtsinn und Übermut. Es ergibt sich
also aus dem Charakter des Menschen. Ungerecht möchte ich es daher
nicht nennen, da der Charakter eigenes Werk des Menschen, genauer: seines
Geistes ist, aber die Frage ist, ob es sich vermeiden lässt."
"Die Frage ist schwer zu beantworten, man kann sie bejahen und verneinen
und für beides Gründe anführen, und würde dabei wieder
in das streitige Gebiet der Willensfreiheit geraten. Und das werdet Ihr
nicht wollen."
"Wenn jedes Leiden gerecht ist, so könnte man daraus folgern,
dass man dem Bedürftigen nicht zu helfen brauche, um nicht in seine
Sühne, sein Karma einzugreifen."
"Diese Folgerung scheint richtig zu sein, ist es aber nicht. Die Pflicht,
dem Bedürftigen zu helfen, besteht immer. Wir wissen nicht, wie es
um seine Sühne steht und ob es nicht gerade unsere besondere Aufgabe
ist, ihm zu helfen. Und erwarten wir in der Not nicht auch Hilfe und nehmen
sie an, ohne zu fragen, ob sie unsere Sühne störe?"
"Diese Antwort hätte ich mir selber geben können", murmelte
Hallerstede, "sie ergibt sich ungezwungen aus deinen Lehren. Aber wie es
bei solchen Unterhaltungen oft geht, man äussert den Gedanken, der
einem gerade durch den Kopf fährt, ohne ihn erst lange zu überlegen.
Und eine fertige Antwort ist bequemer als eine, die man selber suchen muss."
"Bequemer, ja; aber wertvoller ist die selbstgefundene Antwort, weil
sie uns nötigt, das Für und Wider zu erwägen, wobei wieder
andere Fragen auftauchen, die Lösung verlangen. Man lernt viel mehr
auf diese Weise."
"Wohl wahr, aber diese Methode ist nur da ratsam, wo man von zuverlässigen
Grundlagen ausgehen und Folgerungen ziehen kann. Es gibt eben Fragen, die
wir aus Erfahrung und Logik allein nicht richtig beantworten können,
so z.B. die Frage, wieviel Einverleibungen ein Geist braucht, um wieder
rein zu werden, oder um so rein zu werden, dass er sich auf angenehmern
Weltkörpern fortbilden kann, ferner, wieviel Zeit zwischen den Einverleibungen
liegt."
"Ich kann darüber nur allgemeines sagen. Der Geist muss soviel
Stufen steigen als er gefallen ist. Wer nicht tief gefallen ist, also sich
nicht weit von seiner ursprünglichen Reinheit entfernt und seine Individualität
nur wenig verbildet hat, materieller gesprochen: wer seine Seele nur wenig
verschmutzt hat durch unreine, grobe Fluide, der hat auch keinen langen
Weg zur Rückkehr, und es kann sein, dass er nur wenige Einverleibungen,
ja nur eine einzige braucht und sich dann auf geistigeren Welten als die
Erde fortbilden kann zur Vollkommenheit. Der sehr tief gefallene, in der
Sünde verhärtete Geist dagegen muss eine lange Reihe von Einverleibungen
durchmachen und es mögen Jahrtausende vergehen, bis er eine Stufe
erreicht, von wo aus er rascher fortschreiten kann. Die geistige und die
moralische Stufe des Geistes bestimmt die Anzahl und die Art seiner Einverleibungen,
eine Regel lässt sich dafür nicht geben, auch nicht für
den Zeitraum zwischen den Einverleibungen, wie von einigen Forschern versucht
wird. Es ist wahrscheinlich, dass niedere Geister sich nach viel kürzeren
Pausen einverleiben als fortgeschrittene Geister, weil sie infolge ihrer
geringen Intelligenz sich im Jenseits nicht zu beschäftigen wissen,
Langeweile haben und so bald wie möglich eine neue Einverleibung zu
erlangen suchen. Die Sorge um Nahrung, Wohnung und Kleidung entfällt
im Jenseits, auch die Zerstreuungen und Vergnügungen sind sehr gering
und bald ausgekostet, und so haben diese Geister kein anderes Mittel, der
Öde und Leere ihres Daseins zu entgehen, sozusagen vor sich selber
davonzulaufen als wieder Mensch zu werden. Dass es auch bei dieser Regel
Ausnahmen und keine Schablone gibt, liegt in der Natur der Sache; jeder
Geist ist eine Individualität, ein Unikum, das in dieser Art nur einmal
vorhanden ist, jeder geht also auch seinen eigenen Weg, der keinem andern
Weg genau gleicht. Auch diese unerschöpfliche Mannigfaltigkeit ist
ein Zeichen der unergründlichen Grösse Gottes."
"Sieht oder weiss der Geist, der Mensch werden will, alle Einzelheiten
seines künftigen Erdenlebens, etwa, dass er Verbrecher werden oder
Selbstmord begehen wird? Solches Wissen könnte doch nicht angenehm
und auch nicht nützlich sein."
"Er sieht sein künftiges Erdenleben nur im Rohbegriff und weiss
nicht, ob er die Prüfungen und Versuchungen, die es ihm bringt, bestehen
wird, wenn er nicht ein hoher Geist ist, der seine Kraft und die Schwere
der Aufgabe richtig bemisst und demnach seine Wahl treffen kann. Der Geist
auf niederer oder mittlerer Stufe hat diese klare Einsicht nicht; um ihm
die richtige Wahl seines Erdenlebens zu erleichtern, ist ihm der Schutzgeist
oder Führergeist beigegeben, der ihm sagt, ob die Sühne, die
Aufgabe seiner Kraft angemessen sei und ob er sie leisten könne oder
nicht. Nun steht ihm frei, den Rat des erfahrenen Führers zu befolgen
oder nicht. Befolgt er ihn, so gelingt ihm Sühne oder Aufgabe und
sein Erdenleben bringt ihm geistigen oder moralischen Gewinn; hört
er nicht auf den guten Rat, wählt er in Überschätzung seiner
Kraft ein zu schweres Erdenleben, so kann er als Mensch das Leben nicht
meistern, er scheitert, begeht Selbstmord oder tut andere Torheiten, er
verfehlt den Zweck seiner Einverleibung und muss den Versuch wiederholen,
bis der Zweck erreicht ist."
"Wenn es also auf die Leistung ankommt; wie verhält es sich dann
mit dem Glauben, dem die evangelischen Kirchen so grossen Wert beilegen,
im Gegensatz zur Werkgerechtigkeit der römischen Kirche? Wahrscheinlich
auch ein Missverständnis."
"Du meinst wohl die Lehre von der Rechtfertigung durch den Glauben.
Wenn man sie so versteht, dass Gott dem gläubigen Menschen die Sünden
vergibt, die Strafe der Sünden erlässt und ihm um des Glaubens
willen den Himmel öffnet, so ist sie ein Irrtum und nicht vereinbar
mit der Liebe und Gerechtigkeit Gottes. Mit der Liebe nicht, weil sie eine
ewige Verdammnis bestehen lässt; und mit der Gerechtigkeit nicht,
weil Gott nicht allen Menschen die gleiche Möglichkeit zur Erlangung
des Heils gibt, da doch der grösste Teil der Menschheit von diesem
Glauben nichts weiss, ohne eigenes Verschulden. Die Theologen, welche die
Werkgerechtigkeit verwarfen, setzten an ihre Stelle die Prädestination
oder die Gnadenwahl. Beide Lehren lassen sich aus der Bibel begründen,
und beide hatten eifrige Anhänger, zwischen denen es nach Theologenbrauch
heftigen Streit gab. Heute ist der Streit beigelegt, man hat eine Formel
gefunden, die beiden Seiten gerecht werden soll, die Lehre von der praevisio
fidei: "Gott hat die zum Heil bestimmt, von welchen er voraussah, dass
sie glauben würden. Alles Heil stammt von Gott, aber der Glaube ist
Bedingung des Heilserwerbes, und im Glauben ist die Willenshinwendung wesentlicher
als die Heilserkenntnis und das passive Ergriffensein von ihr. (Fussnote
22) Diese spitzfindige Theorie will eine Lieblosigkeit und eine
Ungerechtigkeit durch einen dialektischen Kunstgriff verbinden und so dem
nach Liebe und Gerechtigkeit hungernden Gemüt schmackhaft machen;
sie ist ein Verlegenheitsprodukt theologischen, in einseitigen, unzulänglichen
Begriffen festgefahrenen Denkens, wird aber verständlich aus dem Mangel
an klarer Erkenntnis der moralischen Weltordnung und aus der herrschenden
Meinung, dass der Geist sich nur einmal einverleibe und in diesem einen
Erdenleben seine Seligkeit schaffen müsse. Der Glaube, auf den es
in Wahrheit ankommt, ist der Glaube an Gott, Unsterblichkeit und Verantwortlichkeit.
Dieser Glaube hält den Menschen trotz allem Straucheln auf dem rechten
Wege, er ermöglicht ihm den Fortschritt und ist die Vorstufe zur
Erkenntnis und führt über die Erkenntnis hinaus zur Liebe.
Wer nicht glaubt, dass er irgendwo ein Gut erlangen könne, wird sich
auch nicht darum bemühen, denn der Mensch handelt nach Zwecken. Der
Glaube an Christus aber verbindet uns mit diesem hohen, mächtigen
Geist und lässt uns Kraft nehmen von dessen Fülle, wenn wir ihrer
bedürfen - wie, hat er uns jetzt von neuem gesagt."
"Nur ein geringer Teil der Menschheit glaubt an Christus. Wenn dieser
Glaube eine Hilfe sein soll, so ist der grössere Teil der Menschheit
benachteiligt, was sich mit der Gerechtigkeit Gottes nicht vereinbaren
lässt."
"Ich sehe keine Ungerechtigkeit. Die Geister einverleiben sich nach
einer solchen Ordnung, dass jeder als Mensch das vorfindet, was er braucht.
Er hat ja gewählt. Ob er die Mittel benutzt und wie er sie benutzt,
ist eine andere Sache. Wer als sogenannter Heide von Christus nichts weiss,
kann in einer folgenden Einverleibung von ihm hören oder in der Zeit
zwischen den Einverleibungen ihn kennen lernen. Ungerechtigkeiten zeigen
sich nur, wenn man die Wiedereinverleibungen der Geister leugnet."
"Wenn ich deine Weltanschauung kritisch betrachte, so scheint sie mir
ein verfeinerter Materialismus zu sein, deine Ethik aber ein verfeinerter
Egoismus. Wer das Gute tut um der guten Folgen willen, handelt in Wahrheit
egoistisch, während man es selbstlos, ohne Hinblick auf Lohn tun soll.
So sagen strenge Moralisten."
"Du magst meine Weltanschauung einen verfeinerten Materialismus nennen,
wenn du sie sonst richtig verstehst; der Name tut nichts zur Sache. Auch
die Bezeichnung "verfeinerter Egoismus" ist zutreffend. Aber dieser Egoismus
ist berechtigt, sogar notwendig, buchstäblich not-wendig, die Not
wendend. Du selbst sagst, dass der Mensch den Zweck seines Tuns einsehen
wolle. Nun gut. Auf den unteren Stufen der Entwicklung tut der Mensch das
Schlechte, weil er selber schlecht ist, unwissend und zum Guten unfähig;
er kann nicht anders. Auf mittleren Stufen, wenn die Erkenntnis erwacht,
unterlässt er das Schlechte, um den üblen Folgen zu entgehen,
und er tut das Gute, um die guten Folgen zu ernten. Ob er diese Folgen
nun als Lohn oder Strafe oder als gesetzliche Folgen betrachtet, bleibt
sich gleich. Er strebt und kämpft, fällt und steht wieder auf;
ihm macht die Tugend Schwierigkeit, wie Wilhelm Busch so schön sagt.
Er ist noch nicht gut, aber er hat das Gute erkannt und will gut werden.
Diese mittleren Stufen sind ein unvermeidlicher Übergang zu der oberen
Stufe der wahren Güte und Selbstlosigkeit. Hat er diese erreicht,
ist er gut geworden, so tut er das Gute nun ebenso aus seinem Wesen heraus,
wie er früher so das Schlechte tat. Er kann und mag nicht mehr anders
als gut wollen, und wenn er noch so strauchelt, so geschieht dies nicht
aus schlechtem Willen, sondern aus Mangel an Kraft. Diese verschiedenen
Stufen der Entwicklung durchschreitet der Mensch nicht in einem Erdenleben,
sie verteilen sich auf mehrere oder viele Leben. Also steht die Sache so:
der gute Mensch, der das Gute tut aus innerem Drang, darf die guten
Folgen wissen; dies Wissen vermindert nicht den Wert seiner Tat, da er
sie nicht der Folgen wegen tut. Der ringende, strebende Mensch aber soll
die Folgen wissen, damit dies Wissen ihn ansporne, sich herauszuarbeiten
aus Sünde und Leid. Es ist eine unbillige Forderung einseitiger, überspannter
Moralisten, dass jeder Mensch das Gute selbstlos tun solle. Selbstlose
Güte ist zweifellos das Ideal, als solches aber nicht für jeden
Menschen erreichbar, denn es setzt voraus, dass alle Menschen auf
hoher ethischer Stufe stehen, was eben nicht der Fall ist."
"So gibt es also keine absolute Moral?" fragte Hallerstede. "Ich meine
eine solche, die für alle Menschen gleicherweise gilt. Ich höre
hier und da reden von einem neuen Ethos."
"Der Weg, der zu Gott, oder was das Gleiche bedeutet, zu Vollkommenheit
und Seligkeit führt, nämlich Erkenntnis und Liebe, ist für
alle Menschen gleich, da gibt es keine Ausnahme und hat keiner ein Vorrecht.
Das wäre gegen die Gerechtigkeit Gottes. Nicht gleichgültig aber
ist die Stufe, auf der ein Mensch steht. Die gleiche Tat, getan von Menschen
auf sehr verschiedener Stufe, kann für den vorgeschrittenen Menschen
viel ernstere Folgen haben als für den wenig entwickelten Menschen,
der wegen seiner niedern Stufe und geringen Erkenntnis auch nur geringe
Verantwortlichkeit hat, gleich wie ein Kind nicht so voll verantwortlich
ist wie ein Erwachsener. Wenn unklare Köpfe von einem neuen Ethos,
einer neuen Moral reden, so lasst euch durch solches Literatengeschwätz
nicht beirren; es gibt nur den einen wahren Weg, hat nie einen andern gegeben
und wird nie einen andern geben, denn Gottes Gesetze sind vollkommen und
unwandelbar, wie er selbst. Er macht keine Experimente. Wohl aber wandeln
sich die Anschauungen über diesen Weg in Zeiten der Gährung und
des Übergangs, wenn Altes modert und stürzt und Neues erstehen
will. Dann treten Propheten auf wie Nietzsche, der durch gleissende
Schlagworte und Phrasen und blendenden Stil die Menschen betörte.
Ich will Nietzsche nicht herabsetzen, habe ihn doch gern gelesen, obwohl
ich ihm oft nicht zustimmte. Er war ein feiner, geistreicher Kopf, ein
vornehmer Mensch, der zweifellos das Gute wollte, der aber nicht zurechtkam
mit der überlieferten Ethik und ihrem niedern Gottesbegriff. Er wollte
Besseres geben, konnte es aber auch nicht. Als Kritiker und Einreisser
hat er nützliche Arbeit getan, denn Gott braucht auch solche Arbeiter;
als Prediger eines neuen Ethos war er ein Irrlicht, das irreführte
und selber im Irrsinn endete. Wäre der Identitätsbeweis nicht
so schwer zu erbringen, so würde ich sagen, dass er sich nach seinem
Tode durch ein Medium geäussert und Aufschluss gegeben hat über
die Absichten, die er als Mensch verfolgte, auch über seine Erkenntnisse
als Geist, und zwar hat er sich in so würdiger Form geäussert,
dass ich die Identität nicht ganz und gar bestreiten möchte.
Ehrlich und mutig genug war er, seinen Irrtum einzugestehen. Nach der Heimkehr
werdet Ihr Gelegenheit haben, seine Kundgebungen kennen zu lernen und euch
selbst ein Urteil zu bilden."
"Was haltet ihr vom Gebet, Friedmar? Kann der Mensch den Willen Gottes
ändern durch sein Gebet? Das kann doch nicht sein, wenn alles gesetzlich
geschieht. Und was für unnütze Dinge werden erbeten!"
"Was nennt ihr den Willen Gottes? Wir müssen unterscheiden die
Naturgesetze und die Gesetzmässigkeit der persönlichen Lebensführung.
Diese gibt dem Menschen bei aller Beschränkung doch eine gewisse,
individuell begrenzte Freiheit des Handelns. Die Naturgesetze können
durch das Gebet nicht geändert werden, auch die Aufgabe, die der Geist
sich für dies Erdenleben gestellt hat, lässt sich nicht umgehen,
wohl aber kann dem Menschen innerhalb der begrenzten Freiheit seiner Lebensführung
eine Bitte erfüllt werden, wenn er der Erfüllung würdig
ist und die Erfüllung seinem Fortschritt dient. Gott hat Mittel und
Wege, die Bitte zu erfüllen. Es gibt gut bezeugte Fälle von Gebetserhörung,
ich nenne hier nur den Fall des Georg Müller in Bristol, der jahrelang
ein Waisenhaus unterhielt durch die Mittel, die ihm auf sein Gebet zuflossen.
Der Mensch, der sich in Not befindet, darf seinem Schöpfer diese Not
klagen und darf um Hilfe bitten; er soll aber nicht mehr erbitten als er
braucht, und soll jeder Bitte hinzufügen: Herr, dein Wille geschehe,
nicht der Wille meiner Unwissenheit und Leidenschaft! Der Mensch kennt
nicht seine Zukunft und weiss oft nicht, was ihm förderlich ist, darum
soll er die Erfüllung seiner Bitte der Weisheit Gottes überlassen.
Das gewohnheitsmässige Hersagen von Gebeten hat keinen Wert und ist
unnützer Formendienst. Vor allem bittet um Licht und wahre Erkenntnis
und um Kraft, dieser Erkenntnis zu leben. Diese Bitte umfasst alles, was
Ihr zum geistigen Fortschritt bedürft. Und wenn Ihr selbst Klarheit
und Erkenntnis gewonnen habt, so gebt sie andern weiter, denen, die danach
verlangen und ohne sie jemand aufzudrängen, und indem Ihr andern den
Heimweg zum Vater zeigt, legt Ihr selbst ein Stück eures Heimweges
zurück und erfüllt eure Bestimmung, Bindeglied zu sein zwischen
Hoch und Nieder."
"Friedmar", nahm Erna jetzt das Wort, "wir hätten noch viel zu
fragen, aber da eure Reise sich dem Ende nähert, müssen wir unsere
Wissbegier zähmen. Wir erwarten jedoch von eurer Freundschaft, dass
Ihr uns besucht nach unserer Rückkehr. Und vielleicht könnt Ihr
es ermöglichen, dass wir Nachricht bekommen von unsern verstorbenen
Söhnen; Ihr versteht ja diesen Wunsch einer Mutter. Aber eins möchte
ich jetzt noch gern hören. Ihr habt uns soviel Neues gesagt, dass
es uns nicht möglich war, jedenfalls mir nicht, die Grundgedanken
sofort fasslich zu ordnen. Vor allem: welches ist der kürzeste Weg,
herauszukommen aus den Einverleibungen auf der Erde? Wenn es schönere
Welten gibt, so sehe ich nicht ein, weshalb ich mich nicht bemühen
sollte, so bald wie möglich loszukommen von diesem unangenehmen Planeten,
wo man jedes mässige Behagen mit viel Mühe erkaufen muss und
sich trotzdem meist nicht befriedigt fühlt. Die wahre Lebenskunst
scheint mir darin zu bestehen, durch rechtes Leben sich von der Erde zu
lösen, nicht darin, raffiniertem Genuss nachzujagen. Ich bin nicht
so verliebt in die Erde, dass mich gelüstet, mich noch oft hier niederzulassen!"
"Ich sollte euch eigentlich ein wenig böse sein", setzte Mechthildis
hinzu, "dass Ihr uns die Erde verleidet habt mit der Behauptung, sie sei
eine Bussanstalt und eine Schule und kein Vergnügungsort. Ich hatte
mir viel Schönes versprochen vom Leben, und nun hat alles einen bittern
Beigeschmack. Aber da sich gegen die Wahrheit eurer Behauptung wohl nicht
Triftiges einwenden lässt, denn auch Vater bezweifelt sie nicht, so
scheint auch mir das Beste zu sein, so zu leben, dass man mit einem guten
Führungszeugnis aus der Besserungsanstalt entlassen wird, nicht wieder
zu kommen braucht und in eine höhere Schulklasse übergehen kann."
"Einen Irrtum verlieren kann soviel wert sein wie eine Wahrheit finden",
sagte Friedmar. "Wie es grosse Wahrheiten gibt, die uns unermessliche Aussichten
eröffnen, so gibt es grosse Irrtümer, die uns solche Aussichten
versperren; darum ist das Beseitigen solcher Irrtümer nicht minder
wichtig wie das Zeigen neuer Wahrheiten. Auf das Schöne der Erde braucht
ihr nicht zu verzichten, wenn Ihr es ohne Schuld geniesst, also
niemand Unrecht tut damit, und wenn Ihr euch mit eurem Denken und Tun nicht
an die Erde bindet, also euch von ihren Freuden nicht beherrschen lasst.
Haltet immer den Blick auf das Ewige gerichtet, so werdet Ihr die vergänglichen
Freuden der Erde nicht überschätzen. Bleibt einfach und natürlich,
ohne Frömmelei; Askese wird nicht verlangt und hat keinen Zweck. Was
den Verkehr mit den verstorbenen Söhnen betrifft, so will ich versuchen,
den Wunsch zu erfüllen, aber versprechen kann ich nichts. - Eine kurze,
vorläufig genügende Zusammenfassung der Hauptgedanken unserer
Unterhaltungen findet Ihr in dem Schöpfungsbericht und in den andern
Mitteilungen, die Ihr notiert habt. Der kürzeste, einfachste Weg zum
Vater aber ist die Liebe, ausgesprochen in dem Gebot: liebe Gott und deinen
Nächsten wie dich selbst! und die Ausführung dieses Gebotes heisst:
was euch die Leute tun sollen, das tut ihnen! Darin liegt die ganze Ethik.
Dieses kleine Gebot ist die enge Pforte, der schmale Weg,
den Christus lehrte und lebte; die vielen Satzungen, Dogmen und Formen
aber sind der breite Weg, der die Menschen in Irrtum, Hass, Streit und
Leid führt. Allvater hat seinen Kindern den Weg nicht einfach gemacht,
die Kirchen aber weisen sie auf den breiten, langen Weg, und es kann nicht
eher voller Friede werden, bis die Menschen alle Satzungen, Dogmen und
Formen überwunden haben, bis sie Gott in Geist und in Wahrheit anbeten.
Und wenn man euch unfertige, verworrene Lehren anbietet als Gottes Wahrheit
und als unerlässlich zur Seligkeit, so prüfet sie an der vollkommenen
Liebe Gottes, an der vollkommenen Gerechtigkeit Gottes und an seiner unergründlichen
Grösse. Was diese Prüfung nicht aushält, was nicht klar
und fleckenlos vor euch liegt, das ist nicht Gottes Wahrheit, sondern bestenfalls
ein Zerrbild dieser Wahrheit, entstanden durch unrichtige, enge Begriffe
unwissender Geister und Menschen. Lernt unterscheiden das Wesen vom Schein,
das Vergängliche vom Ewigen. Verliert euch nicht in Kleinigkeiten;
vieles, was den Menschen wichtig scheint, ist Nebensache, weder geboten
noch verboten. Haltet euch an die Grundlagen der moralischen Weltordnung,
besonders an die Liebe; habt Ihr diese, so habt Ihr alles und könnt
den Weg zum Vater nicht verfehlen. Und nun zum Abschied vernehmt die schöne
Kundgebung, die der Apostel der Liebe uns zukommen liess aus seinen seligen
Höhen:
"An die Gemeinde der Liebe!
Alle Tugenden sind Waffen, mit welchen der Mensch gegen das Böse
kämpfen und sich den Frieden erkämpfen soll. Die Liebe
aber, die Mutter aller Tugenden, die alles Ungemach zu überwinden,
alles Böse zu stillen fähig ist, sie ist keine Waffe, die da
Wunden schlägt, sondern ist ein Balsam auf die Wunden, welche die
Waffen im Kampfe den Menschen geschlagen; sie ist der Endzweck alles Kampfes,
das Endziel alles Strebens, in ihr ist Friede! Die Liebe bezwingt
den Feind nicht im Kampf, sondern im Frieden, und darum nenne ich selig
alle, die lieben können das Geschöpf Gottes im allgemeinen, ohne
Ansehen der Person. Die wahre Liebe liebt den Geist, den Gott erschaffen,
den Geist im All, den Geist im Menschen. Sie, die da lieben können
mit solch wahrer Liebe, welche die Person nicht ansieht, sie haben ausgekämpft
den Kampf, sie schlagen keine Wunden mehr, sondern heilen alle Wunden,
die es gibt; sie sind die Pfleger aller Verwundeten im Kampfe des Lebens,
im Kampfe des Fortschritts, im Kampfe für den Frieden, diesen schönen
Urzustand.
Ich nenne sie selig, denn in ihnen ist kein Leid mehr, sondern lauter
Freude und Friede, lauter Wonne und Glück. Sie sind herrliche Geister,
denn die Liebe ist der Diamant unter den Edelsteinen, den Tugenden der
Menschen, das kostbarste Juwel, das ein Menschengeist erkämpfen kann.
Die Liebe sucht nichts auf der Welt für sich, denn sie braucht nichts;
sie ist unermesslich reich, ihre Natur ist "Geben" - immer geben,
soviel einer nehmen kann.
Heiliger Urzustand des Wesens! Heiliges Urgefühl!
Liebe macht nicht gerecht, Liebe heiligt, denn wer Liebe hat, ist schon
gerecht, muss schon gerecht sein, sonst könnte er nicht Liebe haben.
Wer Liebe hat, bedarf nichts mehr, ihm kann nichts mehr gegeben werden,
das ihn glücklich machen könnte, denn er hat alles: Liebe! Die
Liebe erschuf alles, was ist, heilt alles, was krank ist, die Liebe ist
alles in allem; aus ihr wurde das All geboren, in ihr lebt die lebendige
Schöpfung, in ihr freut sich alle Kreatur.
Heilige Liebe, du heiliges Urgefühl! Auf Erden bist du nur schwach
gekannt, kannst nicht empfunden werden in Wahrheit. Nur ein schwacher Abglanz
ist des Menschen Liebe vom Urgefühl, und dennoch weltbeglückend,
unaussprechliche Freuden schaffend.
Die Gemeinde der Liebe ist klein auf Erden, so klein, dass sie nicht
gesehen wird von den Menschen; und doch ist sie vorhanden, und doch hat
sie ihre Vertreter hier; und zu diesen muss ich sprechen, ich, ein Geist
der Liebe, auf Erden einst Johannes genannt, der ein unansehnlicher
Mensch, aber ein Liebejünger Jesu gewesen, ein Mensch, der wenig Worte
hatte, der nicht reden konnte vor Gefühl; mein Gefühl erdrückte
meine Worte, ich konnte nur wenig sagen, aber empfinden tat ich viel. Und
Menschen meiner Art können auch nicht aussprechen, was sie empfinden,
darum bemerkt man sie nicht auf Erden, denn hier in diesem Kampfgetümmel
wird nur der bemerkt, der viele laute Worte macht, die stark in
der Menschen Ohren klingen; der viele offene Taten tut, die auffallen den
Menschen; ein solcher wird gelobt und gepriesen, wenn seine Worte und Taten
den Menschen gefallen, und ist verpönt und verfolgt, wenn sie ihnen
missfallen - aber gekannt ist er immerhin, man spricht von ihm in allen
Weltteilen und fällt Urteile über ihn allerorten. Aber der unbedeutende
Mensch, der sich nicht bemerkbar macht durch laute Worte und auffällige
Taten, der nur in Empfindungen lebt und im Stillen wirkt, den kennt man
nicht. Darum kennt man die Liebe nicht auf Erden, weil Liebe nicht auffällig
ist, weil Liebe nur im Stillen wirkt, sich nicht kreischend fortbewegt
auf der Menschen Wegen. Und doch, und doch - auch wenn man sie nicht sieht,
empfindet man ihre Spuren. Wo Liebe gewandelt und eingekehrt, dort hat
sie etwas hinterlassen, ohne es zu sagen; auf solchem Platz hat sie einen
Teil ihrer Kraft zurückgelassen, und dieser Teil verschafft den Menschen
Linderung ihrer Leiden, gibt ihnen Mut zum Weiterkämpfen und stärkt
ihren Glauben, den Glauben, dass es eine Liebe geben muss, obwohl
sie nicht gesehen wird von den Menschen. Wo Liebe eingekehrt, hat sie dem
Streiter, der schon den Mut verloren im Kampfe des Lebens, neues Vertrauen
eingeflösst und Zuversicht gegeben, dass der Kampf nicht ewig währen
kann, dass einmal Sieg muss sein und Ruhe und Preis und Ehre, wenn auch
der Hohn, die Schmach und das Leid noch so gross gewesen.
Selig nenne ich die Menschen, die Liebe fühlen können
in ihrem Glauben, die da wissen, dass sie einen guten Glauben haben, der
zur Liebe führen muss, zu einer Liebe, wie Gott sie erschaffen.
Du kleine Gemeinde der Liebe, harre aus! Verliere nicht dein Gefühl
und mit ihm deine Natur und nimm nichts von der Welt, lasse alles der Welt,
auch dich! Denn würdest du dich entziehen der Welt, müsste sie
erstarren - die Wärme ist ja ohnehin so gering auf ihr! - ohne dich
würde sie aber ganz aufhören, die Gefühle der Menschen würden
vereisen und einer würde den andern nimmer fühlen können.
Darum musst du der Welt erhalten bleiben als ein Wärmobjekt, dass
sie sich an deiner kleinen Flamme wärmen und das himmlische Blut in
ihr zirkulieren könne und sie nicht noch mehr ihr himmlisches Leben
und ihre göttliche Abstammung verleugne.
Du kleine Gemeinde, wachse und sei still und begnüge dich mit
deiner Stärke und freue dich, wenn du erwärmen und auftauen siehst
der Menschen immer mehr und sie reicher werden siehst an ähnlichen
Gefühlen. O bereichere die Welt, indem du Wärme spendest den
Menschen, damit auftauen könne das vereiste Urgefühl in ihnen
und sie sich immer mehr und mehr bewusst werden, dass in ihnen etwas lebt,
das einst anders gewesen und das sie anspornen soll zum Kampfe mit sich
selber, um sich diese, alte, verlorene Urnatur wieder zu erkämpfen.
Du Wundergemeinde der Welt! Deine Natur ist eine Wundernatur in den
Augen der Menschen - denn wo gibt es Menschen, die da vermöchten alles
zu geben und nichts zu nehmen? Dieses Wunder ist so gross, dass die Menschen
nicht daran glauben können und dieser Unglaube ihnen auch nicht verdacht
werden kann. Aber wenn sie alle Phasen, die diesem Wunder vorhergehen müssen,
durchgemacht haben und dann fühlen werden dies Wunder in sich regen
und lebendig werden: dann werden sie glauben, dass es existiert, werden
sich dann aber auch überzeugen können, dass es nicht plötzlich
bewirkt werden kann, sondern wachsen und sich natürlich entwickeln
muss, um immer deutlicher in Erscheinung zu treten, und werden dies Wachstum
fühlen und sich verwundern: wie man ein Wachstum fühlen kann.
Darum kann die Liebe sich keinem Menschen erklärlich machen, weil
ja kein Mensch sie verstehen kann, ausser der sie selber in sich fühlt,
den sie in der Gewalt hat, den sie beherrschen kann, und ein solcher fühlt
sich dann der allerkleinste, muss sich so fühlen vor der Gewalt, die
ihn beherrscht.
Liebe Kindlein, was soll ich euch noch sagen? Soll ich euch eine lange
Predigt machen? Die braucht ihr nicht. Oder soll ich euch das Wort Gottes
enthüllen? Ihr fühlt es im Wesen, braucht der Enthüllung
durch Worte nicht. Oder soll ich euch den Geist erklären? Ihr seid
ja von seiner Macht regiert. Was also soll ich denn? Soll ich euch ermahnen,
euch untereinander fort zu lieben? Ihr könnt ja nicht anders, euer
Gefühl treibt euch dazu. Was also soll ich euch hinterlassen, da ich
doch zu euch gekommen bin?
Ich will euch hinterlassen einen schwachen Ausdruck meines Gefühls,
und das ist und kann nur sein ein Dank an Gott.
Sollen wir Gott um etwas bitten? Die Liebe verlangt ja nichts, ist
mit ihrem Gott zufrieden und mit allem, was von ihm kommt, und freut sich
alles dessen, wozu Gott sie verwendet, sie freut sich Gottes Waltens und
ist selig in ihrem Tun. Was also bleibt mehr übrig da als Dank?
So lasst uns danken Ihm, dem grossen Geist des Alls, der uns hervorgehen
liess aus seiner Liebe, der uns leben lässt in seiner Liebe, der uns
Frieden gibt durch seine Liebe!
Dir danken wir, o Allvater, du erster Geist des Alls! Dir danken wir
für unser Leben; dir danken wir für alles, was von deiner Allmacht
zeugt; in dir verschwinden wir, denn du hast mitgeteilt von deinem Gefühle
deinen Kindern, und sie fühlen dich, und du fühlst sie. Lasse
wachsen dies Gefühl in ihnen, damit es sich ausbreiten könne
über die ganze Menschheit und diese dich auch fühlen könne,
wie du bist ein lieber Vater! Dank sei dir, Allmächtiger, dass du
bescheinst den Glauben deiner Menschen, damit er sich entfalten könne
zu einem Gefühle, das dich fühlen kann, und sie selig sein können
in diesem Gefühle!
Höre, Vater, den Dank deines geringen Kindes, das dich fühlt
und alles, alles zu tun fähig wäre für deine armen Menschenkinder!
Dein Name möge wachsen auf Erden und die Wärme deiner Liebe möge
sich ausbreiten über die Menschen und sie glücklich machen bald,
bald, wie du es willst, o Vater! Amen. " (Fussnote 23)
Fussnote 16: A. Drews: Die Christusmythe. Zwei Bände. -
Der Sternhimmel in der Dichtung und Religion der alten Völker und
des Christentums.
Fussnote 17: Jülicher: Die Gleichnisreden Jesu, I, 4
Fussnote 18: F. Heiler: Das Wesen des Katholizismus. - Ein vortreffliches
Buch, ehrlich, vornehm, gründlich ohne Weitschweifigkeit. Es beleuchtet
sachlich und klar die Zusammensetzung des Katholizismus aus heidnischen,
jüdischen, römischen, griechischen und christlichen Bestandteilen,
zeigt seine Vorzüge und Nachteile im Vergleich mit den evangelischen
Kirchen und sollte gelesen werden von Katholiken und Protestanten, die
ihre eigene Religion richtig verstehen wollen.
Heiler und andere Theologen sehen das kirchliche Ideal in der "evangelischen
Katholizität", in einer Kirche, die das Gute aller christlichen Kirchen
vereinigt, ohne ihr Ungutes. Vom kirchlichen und theologischen Standpunkt
aus ein schönes Ideal; ob mehr, ist fraglich. Wer die römische
Kirche kennt, kann nicht hoffen, dass sie an der Verwirklichung dieses
Ideals ehrlich mitarbeiten wird. Also bleibt nur die Umwandlung der evangelischen
Kirchen und Sekten in die Idealkirche. Aber auch dieser Plan wird auf grosse,
wahrscheinlich unüberwindliche Schwierigkeiten stossen. Eins der grössten
Hindernisse ist, dass der Gottesbegriff, die Erlösungstheorie und
die Jenseitsvorstellungen auch der evangelischen Kirchen den Forderungen
der Vernunft nicht mehr genügen. Was daran auszusetzen ist, habe ich
in diesem Schriftchen in grossen Zügen zusammengefasst. Da ist ferner
das Apostolikum. Ob man meine hier gegebene Auslegung desselben annimmt
oder nicht, soviel ist immerhin daraus zu ersehen, dass es neben der theologischen
Auslegung noch eine andere gibt, der man Klarheit und Logik nicht absprechen
kann. Soll nun das Apostolikum in seiner bisherigen Form und Auslegung
beibehalten werden und fernerhin eine Gewissensfessel für viele Geistliche
und Laien sein? Wie will man die Denker für die Idealkirche gewinnen,
wenn die Dogmen der Vernunft widersprechen? Sollen sie wieder draussen
bleiben? Will man das Apostolikum still verschwinden lassen und auf ein
Glaubensbekenntnis überhaupt verzichten? Wird dann aber das Volk eine
dogmenlose Religion der lautern Gesinnung und Tat annehmen? Wie soll man
sich das Jenseits, Himmel und Hölle denken? Ist die Offenbarung göttlicher
Wahrheiten endgültig abgeschlossen? Wenn nicht: wie denkt man sich
ihre Kundgabe, wenn man nicht wie Rom über ein unfehlbares Sprachrohr
verfügt? Soviel Fragen, soviel Schwierigkeiten. Man täusche sich
nicht: wie die römische, so ist auch die evangelische Theologie bei
dem toten Punkt angekommen, wo es eine Weiterbildung entsprechend den Forderungen
einer fortschreitenden Erkenntnis nicht mehr gibt; sie wird sich mit neuem
Leben füllen müssen, oder - sie wird nicht mehr sein. Ob das
Experiment, neuen Wein in alte Schläuche zu tun, gelingen wird, ist
zweifelhaft; Christus empfahl es nicht.
Die Umstände sind der Entstehung der Idealkirche nicht günstig.
Wahrscheinlicher ist, dass die religiöse Entwicklung in den nächsten
Jahrhunderten den von mir angedeuteten Verlauf nehmen wird, weil die von
den Theologen bisher nicht beachtete Geisterwelt sich nicht dauernd ausschalten
lässt und die Gruppierung der Menschen in autoritätsgläubige,
in selbstdenkende und in gleichgültige mehr den natürlichen Verhältnissen
entspricht. Das evangelisch-religiöse Leben wird gewiss nicht erlöschen,
aber es wird sich einen andern Ausdruck schaffen. Form und Name sind Nebensache.
Hauptsache ist, dass der Mensch den Weg zum Vater findet. "Auf jedem Wege,
den der Mensch zu mir wandelt, will ich ihn empfangen, denn alle Wege sind
mein." (Bhagavad-Gita).
Fussnote 19: Der Spiritismus will weder eine neue Religion sein noch
die alten Religionen bekämpfen, er ist nur Mittel, unsere Erkenntnis
zu vermehren und zu vertiefen und den Wahrheitskern der Religionen besser
zu begründen. Wer sich in seinem Glauben wohl fühlt und die Bedürfnisse
von Vernunft und Gemüt durch ihn befriedigt sieht, wer sich nicht
nach höherer Erkenntnis sehnt, der bleibe in seinem Glauben, er ist
für ihn der richtige, und es ist kein Grund vorhanden, sich von ihm
abzuwenden. Wenn er die von Christus gegebene Lehre der Liebe tatkräftig
befolgt, wird er dereinst an den ihm gebührenden Ort kommen, und es
macht wenig aus, ob er an Geister geglaubt hat oder nicht.
Es gibt aber zahllose Menschen, denen die Lehren der Kirchen nicht
genügen. Ihnen soll der Spiritismus geben, was sie in den Kirchen
nicht finden. Der Autor des Schöpfungsberichtes sagt über Wesen
und Zweck des Spiritismus:
"Verschieden ist eure Ansicht und verschieden muss sie sein infolge
der Verschiedenheit eurer geistigen Stufe. Dem einen ist er Beweis der
Unsterblichkeit des Geistes, dem andern ist er Unterhaltung und Interesse,
wieder anderen dünkt er vom Bösen auszugehen und scheu ziehen
sie sich von ihm zurück. Aber es gibt auch Menschen, die ihn erkannt
haben als das, was er ist, als das Wort unseres Gottes, und schon auf Erden
finden sie Frieden und Seligkeit in ihm. Solchen ist der Tod ein seliges
Heimfliegen in alte, liebe Heimat, ein Entgegenjauchzen dem Vater, der
ihnen die Aufgabe gegeben und zu dessen Füssen sie die fertige Arbeit
niederlegen dürfen, um das beseligende Gefühl seiner Liebe dafür
zu empfangen.
Liebe Menschen! Der Spiritismus ist der Beweis der Zeit der Reife,
die über euch gekommen, der Zeit, wo die Grenze des Fleisches verschwindet
und Gutes das Gute und Böses das Böse findet und sich damit verbindet
in Mensch und Geisterreich. Das ist der wichtigste Grundsatz, den ihr Spiritisten
euch zu eigen machen sollt: Gleiches zieht Gleiches an. Also kann nur
eure höchste Reinheit hohe Geister anziehen und es ihnen ermöglichen,
mit euch zu verkehren. Darum leget ab alles Niedere, Kleinliche, ringet
mit der ganzen Kraft eures Willens, rein zu werden und frei von Sünde,
denn diese Freiheit allein ist ewig und wahr, jede andere Freiheit enthaltend.
Ihr seid ja bestimmt zur Seligkeit, darum ringt und jagt die ganze Menschheit
nach Glück, und dennoch erkennen nur wenige, dass es nur ein wahres
Glück, nur eine wahre Freude gibt: in der Reinheit, in der Grösse,
in der in ihnen liegenden Gottähnlichkeit. Der Zweck des Spiritismus
ist, den Menschen die Lehre der vollkommenen Liebe, der Gerechtigkeit Gottes
zu bringen, direkt aus Gottes Liebe eine Antwort zu sein auf all das klagende
"Warum?" der leidenden Menschheit. Eine Verbindung der Wissenschaft und
der Religionen, indem er aus allen die Wahrheit nimmt, denn in ihr müssen
Widersprüche schwinden. Den Menschen durch geistige Wahrheit geistige
Freude zu geben, denn Gottes Liebe möchte dem Menschen auch in der
Leidenszeit seiner Sühne Frieden und geistige Freude geben, denn dieser
so unverstandenen, so oft verkannten Liebe ist ein Dankeslächeln eines
Menschen auch eine Freude. Sagte nicht der Sohn: "Und ich sage nicht, dass
ich für euch bitte, denn Er selbst, der Vater, hat euch lieb!" Also
Erkenntnis bringt euch der Spiritismus, die Erkenntnis Gottes, den Beweis
seiner Gerechtigkeit, seiner Liebe, den Beweis eurer Unsterblichkeit. Und
indem hohe Geister euch von eurem Geisterheim erzählen, lernt ihr
es lieben und dem Tod ist der Stachel genommen. Durch den Verkehr mit armen,
gefallenen Geistern aber lernt ihr, welches Leiden die unabwendbare Folge
der Sünde ist, lernt ihr das Reich der Finsternis (das Reich der Sünde)
im Weltall kennen, und indem ihr Mitleid und Liebe für diese Geister
habt und ihnen helft durch Gebet und durch die Lehre der hohen Geister,
die euch geworden, werdet ihr eurem Zweck gerecht als Bindeglied zwischen
Hoch und Nieder. So lernt ihr, um zu lehren, so empfangt ihr das Gute,
um es weiter zu geben, denn das Licht ist göttlich in seiner Eigenschaft:
Je mehr ihr von ihm weitergebt, desto heller brennt es euch.
Darum bleibet nicht am Niedern hängen, nehmet und verwertet den
Spiritismus zu seinem eigentlichen, gottbestimmten Zweck. Alle Kundgebungen
der Geisterwelt regen eure Neugier an, aber gebet euch nicht zufrieden
mit Wenigem, wenn der Spiritismus euch den ganzen reichen Schatz von Gottes
Wahrheit eröffnet. Er soll euch den Beweis der Unsterblichkeit eures
Geistes geben - doch bleibet dabei nicht stehen, strebet vorwärts,
aufwärts. Lernet nun von Gott, aus dessen Ewigkeit eure Unsterblichkeit
hervorging, aus dessen Gerechtigkeit euer Leiden, aus dessen Gnade die
Umwandlung des Leidens zur Sühne hervorgeht; aus dessen Liebe die
endliche Heimkehr aller seiner Kinder und aus dessen Unwandelbarkeit
endliche Vollkommenheit des ganzen grossen Weltalls hervorgehen wird. Die
Antwort ist euch gegeben auf alle fragende Klage, und also verwandelt sich
die Frage zum Dank und zum Jubel. Das ist der Zweck des Spiritismus. Menschenbrüder,
hindert nicht die Erfüllung, indem ihr in den Staub zieht, was euch
aus dem Staub erheben soll. In der Schöpfungsparabel verbindet sich
Gottes Hauch mit dem Staub, und der Mensch ist geschaffen; nun verbindet
sich Gottes Geist mit eurem Geist, und aus dieser Verbindung soll Wahrheit
hervorgehen, die, wieder euch umwandelnd, zu Kindern des Lichtes euch umbilden
soll." -
Der Spiritismus soll uns also belehren über das Jenseits und über
die Folgen unseres Erdenwandels nach dem Tode, und tatsächlich hat
er tausende von Menschen zum Glauben an Gott, Unsterblichkeit und Gerechtigkeit
geführt, und dieser Glaube war ihnen Stütze im Leben und Trost
im Sterben. Wenn nun die Kirchen - allen voraus die römische - den
Spiritismus als dämonisch, als Teufelswerk bezeichnen, so stehen sie
mit dieser Behauptung vor der seltsamen Tatsache, dass dann der Teufel
für
Gott arbeitet, und zwar bewusst. Gewiss sind die Teufel töricht,
dass sie sich gegen Gott auflehnen, aber so töricht, dass sie bewusst
für Gott arbeiten, indem sie die Menschen zu reinem, sittlichem Lebenswandel,
zum Glauben an Gott und zum Gebet auffordern, so töricht sind sie
nun doch nicht. Wohl kann Gott in seiner Weisheit auch die Werke der Gegensatzgeister
für seine Zwecke verwenden und Gutes aus ihnen hervorgehen lassen,
aber das ist doch etwas ganz anderes als die bewusste Arbeit der Bösen
für Gott. Wenn die Kirchen weiter sagen: die Teufel verstellen sich,
hüllen sich in das Gewand scheinbarer Wahrheit, sprechen mit Engelzungen,
um für ihre Irrlehre leichter Glauben zu finden, so kann man fragen:
wenn die Teufel als Engel des Lichts erscheinen, wie wollen dann die Kirchen
sie von den wahren Engeln unterscheiden, und welche Gewähr haben sie,
dass nicht auch die Geistlichen von solchen verkleideten Teufel inspiriert
und getäuscht werden und getäuscht worden sind bei der Aufstellung
von Dogmen, sodass also das ganze Dogmengebäude auf Täuschung
beruhen könnte? Die Dogmen sollen massgebend sein für Lehre und
Leben, aber wie können sie das sein, wenn ihre Wahrheit selbst zweifelhaft
ist? In dem blinden Eifer, den Spiritismus als Teufelswerk hinzustellen,
greifen die Kirchen zu bedenklichen Behauptungen, übersehen aber,
dass diese Behauptungen sich auch gegen die Dogmen der Kirchen wenden,
und so geraten die Kirchen selbst in die Schlinge, die sie andern gelegt
haben. So geht es, wenn man gar zu schlau sein, wenn man durchaus recht
haben will, wenn man in andern geistigen Bewegungen nur das Schlechte sieht
und das Gute nicht anerkennen darf, damit die eigenen Schäfchen nicht
darauf aufmerksam werden.
Es ist hier nicht der Ort, einzugehen auf die aus Unkenntnis, Vorurteil
und Angst vor der Wahrheit entspringenden Angriffe auf den Spiritismus,
ich beschränke mich auf die Abwehr einer der übelsten Verleumdungen.
Wer seine Vernunft nicht hat benebeln lassen, durch Vorurteil und Dogma,
urteile selbst, ob es wahrscheinlich ist, dass z.B. die Kundgebungen "an
die Gemeinde der Liebe" einen Dämon zum Urheber hat. Um das Urteilen
zu erleichtern und auf eine breitere Grundlage zu stellen, gehe ich von
den vielen schönen Gebeten, welche die Geister uns mitgeteilt haben,
das folgende:
"Mein Gott und Vater, der du die eine grosse Liebe bist, dein ist die
Welt und dein bin ich. Erfülle deinen heiligen Willen an mir, an allem,
was ich habe. Erkenntnis gib du mir, mein Gott, Erkenntnis deiner Liebe,
Erkenntnis deiner Weisheit, Erkenntnis meiner Pflichten, Erkenntnis meiner
selbst. Jeden Tag bringe mich dir näher, jede Stunde führe, segne
mich, mit deiner Liebe, Vater, halte mich. Dein ist mein Leben, dein ist
alles, was ich bin und habe; nicht lichtleer, nicht freudlos kann es sein,
wenn du in ihm enthalten bist, wenn es mich emporzieht zu deinem Throne.
Und nimm hinweg von mir Müdigkeit und Schwäche; mit deiner Kraft
durchdringe mich und gib mir volles Verständnis der leisen Jubelmelodie,
die da und dort hervorbricht aus deiner Schöpfung und hervorbrechen
muss, weil du sie bestimmt hast zu Vollkommenheit und Seligkeit. Und allen,
allen gib Erkenntnis, Erkenntnis deiner Grösse, deiner Wahrheit, Erkenntnis
ihrer Sünde, und Erkenntnis, dass in der Sünde allein ihr Leiden
liegt. Dies gib, mein Vater, allen meinen verirrten Brüdern in der
Geisterwelt, auf dass alle deine Liebe fühlen und alle in das eine
Jubellied mit einstimmen können. Und nimm meinen Dank, mein Vater,
für alles, was du mir gegeben, für alles, was du mir getan, für
deine verstandene und unverstandene Liebe. Nimm du, mein Heiland, Meister,
meinen Dank und trage ihn zum Vater, um deiner Liebe willen." -
Orthodoxe Theologen müssen nach ihrer Theorie dies Gebet als das
Gebet eines Dämons bezeichnen. Ob wirklich jemand so beschränkt
ist, es auch zu tun, weiss ich nicht, ich möchte es nicht glauben.
Sollte es aber doch der Fall sein, so möchte ich wissen, worin das
Dämonische bestehen soll und was man sonst an dem Gebet auszusetzen
findet.
Vorsichtige Theologen werden vielleicht sagen, dass sie die Herkunft
dieser Kundgebungen vom Teufel nicht behaupten, sie könnten auch aus
dem Unterbewusstsein des Mediums stammen. Lassen wir die Behauptung von
der Herkunft der Kundgebungen aus dem Unterbewusstsein - diesem "Mädchen
für alles" - einmal gelten, so wäre zu erwidern: auch die Theologen
haben ein Unterbewusstsein, wie wollen sie nun einwandfrei beweisen, dass
die Inspirationen, die sie dem heiligen Geist zuschreiben, wirklich von
ihm und nicht aus ihrem Unterbewusstsein kommen? Woran soll man die göttliche
Wahrheit ihrer Inspirationen erkennen? Etwa daran, dass der Inspirator
sich weislich hütet, etwas zum Nachteil der Priesterkaste zu sagen?
Unbefangene Kritiker schliessen aus diesem Merkmal auf die menschliche
Quelle der angeblich göttlichen Inspirationen.
Die Geisterkundgebungen sind schon zu Bibliotheken angewachsen und
sollen auch künftig reich fliessen. Sie sind nicht gleichwertig. Nur
ein Teil genügt höhern, philosophischen Ansprüchen, und
nur nach diesen besten Leistungen darf die geistige Bedeutung des Spiritismus
beurteilt werden, nicht nach den minderen. Aber auch diese minderen Kundgebungen,
die jedoch nicht immer schlecht sind, dienen einem Zweck, nicht nur, indem
sie Menschen mit mässigem Verstande belehren, - die ja auch der Belehrung
bedürfen und die guten philosophischen Kundgebungen wahrscheinlich
nicht verstehen würden - sondern auch, indem sie den kläglichen
Zustand der Geister offenbaren, die als Menschen nicht nach Erkenntnis
und Tugend strebten, die gleichgültig, leichtsinnig dahinlebten oder
sich auf die Versprechungen der Kirchen verliessen und - sich nun bitter
getäuscht sehen. Man darf von Geistern auf niederer und mittlerer
Stufe keine hohen Lehren erwarten, niemand kann mehr geben als er hat,
aber was sie uns über ihren Zustand sagen, verdient Beachtung, weil
diese Aussagen bei aller Verschiedenheit doch darin übereinstimmen,
dass es eine grundfalsche Ansicht ist, dass der Geist sofort nach dem Ablegen
des Körpers ein weises, vollkommenes Wesen sei und dass der "verzeihende,
schenkende Vatergott" ihm aus Gnade und um des Glaubens willen die Seligkeit
gebe. Nichts dergleichen. Wie wenig der Tod unser Wesen ändert, zeigt
sich u.a. darin, dass viele Geister, die als Menschen sehr materiell dachten
und lebten, nicht einmal wissen, dass sie gestorben sind; sie leben weiter
in ihrer Gedankenwelt, wähnen noch Menschen zu sein und müssen
über ihren neuen Zustand belehrt werden, was besonders bei Materialisten
nicht immer leicht ist.
Die Erkenntnis, dass die Kirchen über das Jenseits nicht die Wahrheit
lehren, wird sich mehr und mehr verbreiten und langsam, aber unaufhaltsam
die Grundlagen der evangelischen Kirchen unterhöhlen, auch der römischen
Kirche viele Mitglieder entziehen und so die Scheidung der Menschen in
die schon genannten drei Hauptgruppen bewirken. Diese Entwicklung braucht
Zeit, man muss mit Jahrhunderten rechnen und heute ist das Problem noch
nicht akut. Aber es ist nicht ausgeschlossen, dass unerwartete Ereignisse
die Entwicklung beschleunigen werden, und früher oder später
wird an die Theologie aller Kirchen die Frage herantreten, ob sie Öl
auf ihren Lampen haben.
Fussnote 20: Bergbach: Geisterkundgebungen 139. - In dieser Kundgebung
sind zwei Sätze versehentlich ausgefallen. Seite 256, Zeile 8, ist
hinzuzufügen: "deshalb auch kann Christus nicht Gott sein, denn Gott
konnte nicht in die Materie. Es gibt eben Dinge, die sich nicht vermischen
lassen."
[Anm.d.Erf.: Die Sätze wurden in []-Klammer im Text eingesetzt.]
Fussnote 21: Friese: Das Leben jenseits des Grabes; von einem
Geist geschildert. Gibt wertvolle, leider nicht erschöpfende Aufschlüsse
über die Wahrnehmungen der geistigen und materiellen Welt durch Geister
auf niederer und mittlerer Stufe. Eine gründliche, umfassende Darstellung
dieser Frage fehlt noch. Einzelne Mitteilungen finden sich zerstreut in
medialen Kundgebungen, und es wäre nützlich, sie zu einem Ganzen
zu sammeln. Klare Einsicht in diese verwickelte Frage könnte die Untersuchung
und Beurteilung mediumistischer Phänomene erleichtern, denn es scheint,
dass die Forscher in Unkenntnis dessen, was die Geister leisten können,
Forderungen stellen, die nur unter besonders günstigen, nicht immer
gegebenen Bedingungen erfüllbar oder überhaupt unerfüllbar
sind. Misserfolge werden dann den Medien oder Geistern zur Last gelegt
und führen zu voreiligen Schlüssen. Im allgemeinen sei nur noch
gesagt, dass die Geister von der Wahrnehmung der materiellen Welt nicht
so dicht abgeschlossen sind wie wir mit der sinnlichen Wahrnehmung der
geistigen Welt.
Fussnote 22: Real.-Enzyklopädie für protest. Theologie und
Kirche, 3. Aufl. XXI. 315.
Fussnote 23: Reformierende Blätter II. 387
Bemerkung [von F. Funcke]: Eben vor Beendigung des Druckes bekomme ich
das neu erschienene Werk von Ingenieur Hans Malik: Der Baumeister seiner
Welt. (600 Seiten gross 8° mit 123 Abbildungen. Im Selbstverlag des
Verfassers, Wien VI, Mollardgasse 39). Viele Fragen, die ich nur flüchtig
berührt oder ganz übergangen habe, sind in diesem Werk ausführlicher
behandelt, so die Planetenbewohner (nach Kundgebungen durch Adelma Vay);
Besessenheiten und deren Behandlung (für Ärzte und Geistliche
gleich lehrreich); die Beschaffenheit der zu unserem Erdkörper gehörigen
Regionen (Sphären) des Jenseits; die Entstehung der Welt; Probleme
des Mediumismus; und viele andere interessante Einzelfragen. Der Verfasser
verfügt über grosse Erfahrung auf dem Gebiete der psychischen
Forschung, und seine Beobachtungen und Ansichten sind wertvoll für
die Beurteilung der immer mehr in den Vordergrund rückenden Probleme
des Mediumismus.
[Fussnote 33:] Anmerkungen zu Seite 186: Bei der Frage der Gotteslästerung
habe ich nur die Rechtslage, das Schuldverhältnis zwischen Gott und
dem Mensch rein theoretisch dargestellt, um klare Begriffe zu schaffen.
Praktisch ist selbstverständlich nichts dagegen einzuwenden, dass
die Religionen gegen Beschimpfungen geschützt werden, insoweit dieser
Schutz die berechtigte sachliche Kritik nicht behindert, und auch innerhalb
der Religionsgesellschaften mögen Bussen oder Strafen verhängt
werden, wie die Leiter der Gesellschaften es für gut befinden. Ob
es empfehlenswert ist, die "Gotteslästerung" unter Strafe zu stellen,
bleibe hier unerörtert.
Letzte Änderung am 14. Nov. 2002
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